Auf dem Camino del Norte / Camino de la Costa I
Von Irun durch das Baskenland
1: Baskenland
2: Kantabrien
3: Asturien Teil 1
4: Asturien Teil 2
5: Galicien
Der Startpunkt des Camino del Norte befindet sich in Irun im spanischen Baskenland - nicht weit vom Startpunkt des Camino Francés, von St.-Jean-Pied-de-Port entfernt. Wie bei den vorigen Touren nehme ich den Fernbus durch Frankreich und über die Pyrenäen. Ein Plakat am Busbahhof fällt mir auf, vielleicht könnte es das Thema der Tour werden. Gut - denke ich mir beim Lesen -, dass ich Texte im Internet später noch korrigieren kann.
Schon vor Beginn der Wanderung beginnt das Wettrennen um einen Platz in der Herberge, die um 16 Uhr öffnet. Davor warten schon Massen an Pilgern, ich bekomme gerade noch einen Platz. Kurz nach der Öffnung ist die Herberge komplett belegt.
Es regnet. Die erste Etappe führt in die Berge und endet an einem See. Dort kann man sich mit einem Boot übersetzen lassen und den Camino fortsetzen, oder als echter Pilger um den See herumlaufen. Ich entscheide mich daher für die zweite Variante. Jedoch fehlen die Wegmarkierungen. Im Industriehafen frage ich mich durch bis nach San Sebastian. Dort abgekommen, bleibt keine Zeit für eine Stadtbesichtigung: ich muss möglichst schnell eine preiswerte Unterkunft finden, es gibt nur die Jugendherberge. Und die liegt ganz am Ende der Stadt.
Abends verabrede ich mich mit einem spanischen Pilger, den ich auf einer früheren Tour kennengelernt habe. Wir fahren mit einer Bergbahn auf einen Berg, der sich am Ende von San Sebastian liegt und eine grandiose Aussicht bietet.
Die nächste Etappe beginnt so, wie ich sie mir vorgestellt habe - am Meer entlang, durch Hafenstädte. Zum Schluss gibt es zwei Alternativen - links an der Straße entlang, rechts zum Meer, ein Pfad, der abwärts zum Strand führt. Dieser ist zwar 2 km länger, aber die sind es wert. Ich laufe durch weißen Sandstrand am Meer entlang und suche nach der Pilgerherberge von Zarautz. Ein Schild informiert: die Unterkunft öffnet um 16 Uhr - eine Stunde später - es gibt Platz für 30 Gäste. 34 Pilger warten gerade davor. Pech gehabt, also weiter zur nächsten Herberge. Vier Kilometer danach, in Getaria, ist noch reichlich Platz in der Herberge. Nach dem Anmelden mache ich mich auf den Weg durch die Stadt und besteige einen Berg, der auf einer Halbinsel der Innenstadt folgt. Am höchsten Punkt, so verspreche ich mir, werde ich ein besonderes Denkmal oder Ähnliches vorfinden. Jedoch befindet sich dort etwas, das irgendeine Kombination von einer Kapelle und einem Bunker zu sein scheint. Alles ist mit Graffiti beschmiert. Der Aufstieg hat sich nicht gelohnt.
Später - zurück in der Herberge - hängt sich an mich ein Spanischer Junge, der englisch üben will und den ich nicht mehr loswerde. In einer Bar in der Nähe bekommt man ein Pilgermenü. Aber nur bis 21 Uhr abends. Eine halbe Stunde vorher mache ich mich auf den Weg, der spanische Junge folgt mir und will dolmetschen. Er versteht jedoch kaum etwas von dem, was ich sage - ich kann ihn nicht abwimmeln. Bald ist es zu spät für das Pilgermenu und ich bleibe hungrig.
Auf dieser Etappe gibt es mehrere Varianten. Ich folge ein paar Pilgern, die vor mir wandern und sich statt an dem üblichen gelben Pfeil an einer weiß-roten Markierung orientieren. Ein paar Meter weiter Stacheldraht. Die Pilger helfen sich gegenseitig beim Überqueren und mir ebenso, als ich sie bei der Aktion einhole. Auf dem weiteren Weg stellt es sich als sehr schwierig dar, einen Durchgang durch die Wildnis zu finden, jedoch erreichen wir nach einiger Zeit eine Klippe am Meer mit bizarren Sandsteinfelsen. Genau so hatte ich mir das vorgestellt: etwas außergewöhnliches zu entdecken - das gab es auf dem normalen Camino noch nicht. Der weitere Weg führt steil bergauf, wieder steil abwärts und ist sehr rutschig. Was zum Problem wird, da eine Spanierin das nicht gewöhnt zu sein scheint und noch weniger darauf vorbereitet ist, mit Modeturnschuhen, mit denen sie mehr rutscht als zu gehen.
Irgendwann knickt sie mit dem Fuß um. Nach einer langen Pause kann sie sich nur hinkend fortbewegen. Die Stadt Deba erreichen wir wesentlich später als erhofft, zu sechst fragen wir nach einem Platz in der Herberge, es gibt nur noch fünf, ich bekomme das letzte Bett und einer unserer Gruppe, ein Belgier, geht leer aus. Die Spanier entscheiden sich dafür, den Camino abzubrechen und am nächsten Tag mit dem Zug zurück nach Madrid zu fahren.
Mit dem Belgier wandere ich am nächsten Tag weiter. Unterwegs lernen wir noch eine Gruppe Französinnen kennen, mir denen wir bis zur nächsten Stadt, in der es eine Herberge gibt, gehen. Die aber schon voll belegt ist. Zum Glück und über Kontakte wird für uns eine private Herberge sechs Kilometer weiter organisiert - von dem Hospitalero werden wir mit dem Auto abgeholt, bekommen ein Zimmer für alle. Und bei der Gelegenheit reserviert er für den nächsten Tag für uns eine Unterkunft im voraus. Abends lernen wir noch weitere französische Pilger kennen, von denen einer ein Live-Konzert auf seiner Ukulele vorträgt.
Am nächsten Tag führt der Weg durch ein Naturschutzgebiet, durch Wildnis. Gernika, erfahre ich, hat eine traurige historische Vergangenheit - wegen Aufständen der rebellischen Basken gegen das Franko-Regime sollte hier ein Exempel statuiert werden. Die Stadt wurde flächendeckend bombardiert. Berühmt ist eines der Bilder von Picasso, der diese Aktion in einem riesigen Gemälde darstellte.
Die anderen Pilger, mit denen ich jetzt unterwegs bin - dem Belgier, zwei Holländern und vier Französinnen, entscheiden sich dafür, die letzten 11 Kilometer bis Bilbao von dem Dorf Lazama mit dem Zug zurückzulegen. Eigentlich hatte ich nicht vor, den Camino auf diese Art abzukürzen, aber das Argument, dass der letzte Weg nach Bilbao nur durch Industriegebiet führt, überzeugt mich dann doch.
Es ist dass erste Mal seit Tourbeginn, dass ich eine spanische Flagge - rot und gelb - sehe, an irgendeinem Verwaltungsgebäude, und die ist zudem etwas winzig. Anderenorts wurde diese ausgemerzt und man findet ausschließlich die rot-grün-weiße Flagge der Basken, was auf weit fortgeschrittene Autonomie-Bestrebungen hinweist. Nach einer kurzen Wanderung durch die Großstadt nehmen wir den Bus zur Jugendherberge - einem riesigen Gebäude, weit außerhalb an der Stadtgrenze.
Abends fahren wir von der Herberge zusammen zurück in das Stadtzentrum, um zu feiern. Wir probieren ein Spezialitäten-Restaurant aus, ich versuche eine Übersetzung für die Gerichte zu finden - das dritte Hauptgericht ist: „Rabo de Buey“, laut Wörterbuch: Ochsenarsch. Der schmeckt besser als erwartet, ist aber etwas wenig. Zwei Knochen mit etwas Fleisch daran. Am späten Abend verschieden sich die meisten. Nur mit dem belgischen Pilger gehe ich weiter feiern - eine Hardrock-Bar wäre ihm an liebsten. Nachdem wir uns bei einigen Spaniern erkundigt haben, wo man so etwas findet, sind wir lange erfolglos bei der Suche und irren durch die Stadt, bis der Belgier einen etwas seltsamen Typen mit Sonnenbrille herumlaufen sieht, der einen Joint raucht. Er fragt ihn etwas, daraufhin folgen wir ihm eine Weile durch heruntergekommene Stadtteile, bis die beiden anderen kurz diskutieren. Der Belgier gibt dem Typen daraufhin 20 Euro, der dann schnell mit dem Geld in einem Hinterhof verschwindet, während wir warten. „So etwas habe ich noch nie gemacht bei jemandem, den ich gar nicht kenne - hoffentlich ist der vertrauenswürdig“, meint der Belgier zu mir. Wir warten eine längere Zeit, dann taucht der andere wieder auf und drückt meinem Begleiter ein Päckchen mit grünem Kraut in die Hand. Weit gehen zurück in das Kneipenviertel und der Belgier nimmt eine erste Prüfung des Krauts vor, ich teste mit und denke, die Qualität ist in Ordnung.
In der Gasse vor einer Kneipe wird uns eine Live-Comedy-Show dargeboten. Der Belgier ist zwar größer als ich, aber schmächtig im Vergleich zu dem Bär, der vor uns eine Ein-Mann-Show aufführt. Gerade trägt er vor, wie großzügig er zu allen wäre, sein Problem jedoch - sagt er gestenreich - alle so Begünstigen wären ihm gegenüber undankbar. Zwei schweizer Pilger diskutieren gerade mit ihm. Einer von ihnen entgegnet, sein eigentliches Problem wären wohl eher die Drogen.
Der Bär trägt weiter vor, er wäre Amerikaner und zeigt zum Balkon über der Kneipe: dort oben würde er Englischunterricht geben. Der eine Schweizer grinst und fragt: „Da, wo die Wäsche zum Trocknen hängt, unterrichtest du?“
Ich bin eine Weile bestens unterhalten - mit der lauten Stimme und der übertriebenen Gestik ist er der perfekte Schauspieler. Macbeth sollte er darstellen, denke ich, dafür wäre der bärtige Riese genau der Richtige. Bei der nächsten Gelegenheit, die sich bietet, fragt der Belgier - da er für diesen Abend noch nach gewissen Etablissements sucht - den Bär, ob er wisse, wo man „Girls“ finden könnte.
Dieser erwidert: kein Problem. er führt uns dorthin, wo „Gays“ zu finden sind.
Der Belgier folgt, ich schließe mich ihm an, vor allem weil ich bei dessen zugekifftem Zustand um seine Sicherheit besorgt bin. Aber ich versuche ihm zu erklären, dass es wohl ein Missverständnis geben muss. Wiederholt fragt mein Begleiter nach „Girls“, doch der Bär erzählt wiederholt von „Gays“. Er kommentiert, es mache doch wohl keinen Unterschied - man müsse nur flexibel sein. Wir überqueren eine Brücke und stehen vor einer Bar, die blau beleuchtet ist.
Davor sitzen einige Männer mit Bier, rauchen Haschisch und mustern uns neugierig. „Das ist die Blue-Light-Bar“, erklärt der Bär.
Dem Belgier erkläre ich, für diesen Abend hätten wir meiner Meinung nach genug gefeiert, wir sollten uns zurück auf den Weg zur Herberge machen. Es ist etwa vier Uhr morgens, und der Fußweg zurück dauert mindestens noch eine Stunde.
Wir sind auf dem Weg zur Herberge, jedoch trennt er sich auf halben Weg von mir, denn er wolle noch nach „Girls“ suchen und komme bald nach. In der Herberge warte ich eine Weile auf der Terrasse, eine Viertelstunde später erscheint der Belgier. Er hätte nur noch einen Joint geraucht, erzählt er, und davon wäre ihm schlecht geworden. Es ist schon fast 6:00 morgens - Zeit, schlafen zu gehen.
Die beiden anderen Pilger im Schlafraum stehen frühzeitig auf. Ich bleibe noch ein halbe Stunde liegen und wecke dann den Belgier. Es ist 8:00 Uhr. Zeit, aufzustehen, denn laut Plan gibt es Frühstück nur zwischen 8:00 und 8:30. Als ich um 8:15 den Frühstücksraum betrete, ist alles schon abgeräumt, Essenszeit beendet. Es stehen nur noch zwei Thermoskannen mit Kaffee und Milch dort. Ich greife mir eine benutzte Tasse und fülle sie. Besser ein Kaffee als gar nichts.
Der Belgier raucht wegen dem verpassten Frühstück als erstes einen Joint auf dem Weg zum Zug, wir fahren zusammen mit der Metro in die Altstadt und palavern beim Mittagessen. Die zwei Französinnen erzählen, sie würden heute zurück nach Bordeaux fahren und fragen mich, was ich für dir nächste Etappe plane. Mir kommt der ständige Wettlauf um einen Platz in den Herbergen in den Sinn und erkläre - es ist als Witz gemeint -, ich würde am Abend in Bilbao noch feiern gehen und Nachts starten zur nächsten Etappe. Denn ich würde einerseits eine Übernachtung sparen, andererseits früh morgens ankommen und wäre als erster bei der nächsten Pilgerherberge. Und würde den ersten Schlafplatz bekommen. Danach ausschlafen, abends wieder feiern gehen. Die Französinnen amüsieren sich köstlich darüber.
Eine Nachtwanderung, wäre etwas, was ich noch nicht unternommen habe. Bisher nur mit dem Fahrrad. Vielleicht sollte ich das einfach mal ausprobieren: „Camino de la Noche“. Nach dem Besuch von einigen Kneipen starten ich und der Belgier 1 Uhr morgens die nächste Etappe. Auch wenn man gar nichts sehen würde - es gäbe nichts, was man verpassen könnte. Der Weg führt Schnur-geradeaus entlang dem einem Fluss, Hafen folgt Industriegebiet, Graffiti-beschmierte Häuser, Hafen, Industriegebiet. Mein Mitpilger erzählt etwas von seiner Zeit bei der Armee, das wäre noch nicht so lange her und die Aktion heute Nacht erinnere ihn daran. Als Soldat hätte er auch solche Touren unternommen. Wegen Schlafmangel sind wir irgendwann platt. Bei einer Rast schläft der Belgier ein. Ich wecke ihn, wir müssen weiter. Nach einigen Stunden hören wir laute Musik vom anderen Ufer des Flusses, obwohl die Stadt noch weit entfernt ist. Einige Kilometer weiter zeigt mein Begleiter nach oben und grinst: „Das ist die Brücke über den Fluss. Wir sind fast da“. Ich schaue nach oben und sehe eine Stahlbrücke, die auf beiden Seiten des Ufers in geschätzt 50 Metern Höhe abrupt endet. Was zuerst nach Blödsinn aussieht, bekommt einen Sinn, als ich darunter ein leuchtendes Gefährt über dem Fluss schweben sehe: Eine Autofähre, die an Seilen hängt.
Nachdem wir mit diesem eigenartigen Gefährt den Fluss überquert haben und in Portugalete angekommen sind, dröhnt uns laute Musik entgegen. Unzählige Leute sind unterwegs, die ihr Bier Gassi führen und laut palavern - wir haben die Fiesta erreicht. Doch unser Ziel ist nur noch ein Platz zum Schlafen. Nachdem wir lange umher geirrt, in die falsche Richtung gelaufen sind, stehen wir um 5 Uhr morgens müde vor der Pilgerherberge. Und lesen einen Hinweis: Öffnungszeit nachmittags, 16 Uhr.
Die Laune des Belgiers erreicht ihren Tiefpunkt, er hat wohl keine Lust so lange zu warten: „Lasst uns weitergehen und einen anderen Platz zum Schlafen suchen“, schlägt er vor.
Um 6 Uhr erreichen wir einen Stadtpark mit Spielplatz. Auf der Wiese unter einem Baum versuchen wir, es uns gemütlich zu machen. Mein Mitpilger hatte erklärt, spätestens 7:30 - wenn es hell wird - wolle er weiter. Also wecke ich ihn um diese Zeit, jedoch scheint er immer noch wach zu sein. Geschlafen hätte er gar nicht, gähnt er müde. Wir wandern durch eine Landschaft, deren Hügel nach alten Vulkankegeln aussehen, bis wir Vormittags den Strand von El Arena errichen. Dort treffen wir Zwei Pilgerinnen wieder: eine Französin und eine Holländerin, die von Bilbao nach Portugalete mit dem Zug gefahren waren, um von dort aus weiterzuwandern - um diesen unattraktiven Teil der Etappe zu vermeiden.
Der Belgier ist unentschieden, was er mit dem Rest des Tages anfangen soll - vielleicht wandert er später weiter, vielleicht bleibt er in dem Ort. Auf jeden Fall einige Stunden am Strand liegen und ausruhen wolle er. Ich habe mich schnell entschieden für die Herberge im Ort. Meine Motivation, heute noch weiterzuwandern tendiert gegen den negativen Nullpunkt.
Eine Nacht in der Herberge ist angenehm, aber ganz nachholen kann ich die zwei Tage mit weniger als 4 Stunden Schlaf nicht und wandere müde auf der nächsten Etappe. Der Weg führt durch das Gebirge, bis ich Castro Urdiales erreiche. Und einen Sandstrand der sehr gut besucht ist - jeder Quadratzentimeter scheint besetzt zu sein. Es sieht aus wie in einer Sardinenbüchse, ist wahrscheinlich fast genauso ölig. Aber es gibt mehr zu sehen. Zeit bleibt nicht viel, außer eine kurze Pause, die Plätze in der Herberge werden sicher wieder knapp. Das bestätigt sich, als ich dort ankomme - eine Horde Pilger sitzt schon davor, wesentlich mehr als hineinpassen. Der Herbergsverwalter empfiehlt, den Bus nach Islares zu nehmen, was ein guter Rat ist: Dort mit drei anderen Pilgern angekommen, gibt es noch zwei Plätze in extra aufgestellten Zelten. Zwei Franzosen nehmen den Schlafplatz im Zelt, zwei Betten in der Unterkunft sind für mich und den vierten Pilger übrig.
In Castro Urdiales beginnt die Region Kantabrien.