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Via Podiensis
Von Le Puy bis Cahors


19.07.2023 - Anreise nach Le Puy

Nach ein paar Jahren Pilgerpause geht es diesmal zur Via Podiensis, dem Weg, der von Le Puy-en-Velay bis nach Saint-Jean-Pied-de-Port führt.

Wie zu jedem Jakobsweg, „Chemin Compostelle“ in Französisch, reise ich mit dem Fernbus an. Um bis nach Le Puy-en-Velay zu kommen, muss ich noch weiter mit der französischen Bahn von Lyon, mit einem Umstieg in Saint Etienne. Mit der DB-App lässt sich die passende Verbindung suchen und das Ticket sogar direkt zum gleichen Preis wie vor Ort buchen. Diesmal leistet das System der Deutschen Bahn einen guten Dienst.

Am frühen Nachmittag erreiche ich Le Puy und kümmere mich gleich um meine Unterkunft. Diesmal suche ich bevorzugt kein Einzelzimmer wie damals in dem großen Seminario. Eine Pilgerherberge, in der ich auch etwas Gesellschaft habe, ist mir lieber. In einer auf Donativo-Basis ist noch Platz für mich. Hier bekomme ich auch einen Pilgerausweis, den ich für die Stempel auf dem Weg brauche.
Nun wird es Zeit für mich, um mich noch etwas in Le Puy umzusehen. Die riesige Marienstatue hatte ich vor Jahren bereits besichtigt und die Kapelle auf dem Vulkanhügel ebenso. Die Klosterkathedrale noch nicht. Doch diese ist wegen Renovierung geschlossen. Schade.

Zahlreiche Pfadfindergruppen sind in der Stadt unterwegs. Als ich im Shop der Kathedrale Postkarten erworben habe, werde ich von einer Pfadfindergruppe zu einer kostenlosen Führung durch das Gotteshaus eingeladen. Ein weiblicher Scout erklärt alles rund um das Gebäude. In Französisch. Eigentlich komme ich in dieser Sprache gut zurecht, was alltägliche Dinge wie Essen, Schlafen und Wandern betrifft, doch bei den ausführlichen Erklärungen zu Bibeldarstellungen und der Bibelgeschichte tue ich mich beim Verstehen zunehmend schwer. Sie führt die kleine Gruppe von Zuhörern über eine Wendeltreppe aufwärts in einen Raum, in dem einige Wandmalereien zu sehen sind, die Bibelgeschichten darstellen und bei einem Bildnis erklärt sie, es wäre ein Bildnis des Salomon. Plötzlich wendet sie sich an mich und fragt, ob ich wüsste, wer Salomon wäre. Das Verstehen der fremden Sprache hatte mich in meiner Konzentration bereits so sehr beansprucht, dass mir nur der Sportschuhhersteller einfällt. Sie korrigiert mich und erklärt, Salomon wäre der Sohn Davids.


[20.07.2023] Von Le Puy bis Monistrol-d'Allier

In der Pilgerherberge muss man früh aufstehen, wenn man an dem Pilgergottesdienst in der Kathedrale teilnehmen will. Der findet um 7 Uhr morgens statt. Man muss seinen Rucksack bereits fertig gepackt haben, denn nach der Messe werden die Pilger auf den Weg verabschiedet.
In der Herberge scheint es ein morgendliches Ritual zu sein, das Wanderlied „Ultreia“ zu singen.

Tous les matins nous prenons le chemin,
tous les matins nous allons plus loin,
jour après jour, la route nous appelle,
c‛est la voix de Compostelle
Ultreïa, ultreïa
E sus eia
Deus, adjuvanos !
Chemin de terre et chemin de foi,
voie millénaire de l‛Europe,
la voie lactée de Charlemagne,
c‛est le chemin de tous les jacquets
Ultreïa, ultreïa
E sus eia
Deus, adjuvanos !
Et tout là-bas au bout du continent,
messire Jacques nous attendons,
depuis toujours son sourire fixe,
le soleil qui meure au Finisterre

Viele Franzosen singen den Text falsch und dann reimt er sich nicht. Das Lied ist in Okzitanisch verfasst. Dort spricht man eine andere französische Mundart, für die man die Reimform angepasst hat.
Knapp schaffe ich es zum Beginn der 7 Uhr-Messe, die mit Gebet und viel Gesang abgehalten wird. Zum Schluss wird gefragt, wer von den Pilgern nicht aus Frankreich stammt. Es melden sich einige Belgier, zwei Holländer, eine Puertoricanerin und ein Schweizer. Die wenigen nicht-Franzosen sind deutlich in der Minderheit. Ich jedoch melde mich nicht. Es muss nicht jeder wissen, dass auch ein Deutscher mit dabei ist.
Man bekommt auch ein paar Dinge mit auf den Weg. Ein Gebetsbüchlein, einen kleinen Muschelanhänger und einen Zettel mit einer Losung für die Pilgerschaft. Ich hatte mich während der Messe bereits gewundert, wohin denn die Treppe verschwunden war, durch die man normalerweise zum Hauptportal der Kirche gelangt. Zum Ausklang der Messe öffnet sich wie von Geisterhand der Boden und der Weg zum Pilgern wird frei. Welch ein toller Gimmick!

Es geht los. Kurz vor neun bin ich auf dem Weg mit allen anderen, die an der Messe teilgenommen haben. Ein Pilger aus der Herberge erzählt mir, er wäre einen Weg namens „Chemin de Stephenson“ gewandert, der von Süden bis nach Le Puy führt. Es gibt also nochmal eine weitere Variante der vielen Jakobswege!

Nach einem kurzen Aufstieg wird die Wanderung sehr angenehm, führt über Schotterpfade an Feldern vorbei durch kleine Ortschaften. Nach einer Pause in Saint-Christophe-sur-Dolaison geht es bei steigenden Nachmittagstemperaturen weiter.

Als heutiges Ziel hatte ich mir Saint-Privat-d'Allier ausgesucht. Eine 23 Kilometer Etappe, das sollte für den ersten Tag genug sein. Doch die Herberge, die ich ausgewählt hatte, ist schon ausgebucht. Als ich mich umschaue, finde ich nur Angebote um die 60 bis 80 Euro pro Nacht. Es gibt auch einen Campingplatz im Ort, doch ich bin nicht mit einem Zelt ausgerüstet.

Die nächste Übernachtungsmöglichkeit befindet sich 7 Kilometer entfernt. Also weiter. Es folgt ein ziemlich wilder Pfad, bis ich an einen Felsen gelange, der von einer Kapelle und einem Turm gekrönt wird. Sehr malerisch. Von dort folgt ein Abstieg, der äußerst unwegsam wird. Es ist ein sehr steiler Pfad und einige Male rutsche ich aus, rappele mich aber immer wieder auf.

Als ich wieder stabilen Grund erreicht habe, schaue ich in meiner Internetliste nach, welche Unterkünfte es im nächsten Ort Monistrol-d'Allier gibt. Bei der günstigsten rufe ich an. Zwar ist die Verständigung etwas schwierig, aber mir wird ein Platz reserviert. Als ich dort ankomme, stellt sich jedoch heraus, es ist ein Campingplatz. Der Inhaber war davon ausgegangen, dass ich ein Zelt mithabe. Habe ich aber nicht. Es gab zwar einst einen Schlafsaal, den es jetzt aber nicht mehr gibt, aber noch auf meiner Liste stand. Was jetzt? Der Verwalter gibt sich aber hilfreich, ruft bei einer Gîte d'étape an, so heißen hier die privaten Pilgerunterkünfte, und ich bekomme doch noch einen Platz für die Nacht. Bei der Unterkunft ist Abendessen inklusive. Ich komme gerade passend zur Essenszeit, zum Duschen und Umziehen bleibt keine Zeit mehr. Mit am Tisch sitzen drei belgische Pilger, ein Schweizer, der aber aus der italienischen Schweiz stammt und Französisch redet, sowie zwei französische Pilger (manche davon auch weiblich, das *innen soll sich der Leser einfach dazudenken).
Kein Deutscher. Außer mir. Das ist gut. So hatte ich mir das gewünscht. Ideale Bedingungen, um die französische Sprache zu üben.


[21.07.2023] Von Monistrol-d'Allier bis Chanaleilles

Von Monistrol steige ich am Rand einer Schlucht über Vulkanfelsen aufwärts. Dort begegne ich den Pilgern vom Vorabend und wandere mit ihnen bis zu einer Höhlenkapelle, in der Seniorinnen mir einen Schluck kaltes Wasser anbieten. Sie laden mich auch zu einem Gottesdienst ein, der gleich stattfinden soll. Die anderen gehen weiter, aber ich bleibe und nehme an der Messe teil. Man ist ja Gast und so eine Höhlenkapelle ist etwas Besonderes.
Der weitere Weg ist sehr attraktiv. Ein gemütlicher Wanderpfad mit viel Grün, man sieht Schafe und Kühe. Natur pur.

Nach einem Abstieg ins Tal erreiche ich Saugues. Eine Stadt, in der es viele Einkaufsmöglichkeiten gibt, regionales Obst, Bäckereien, mehrere Türme (die zur Mittagszeit leider geschlossen sind) und ein Museum (das zur Mittagszeit ebenso geschlossen ist).
Das Thema des Museums ist besonders interessant. Es geht um eine sogenannte „Bête du Gévaudan“. Eine Art Werwolf, der im 18. Jahrhundert in dieser Gegend sein Unwesen trieb und dem über 100 Frauen und Kinder zum Opfer fielen. Darüber wurde sogar ein Kinofilm, „Pakt der Wölfe“ gedreht.

Der nächste Ort, La Clauze ist nicht weit entfernt und dort entdecke ich eine Gratis-Unterkunft. Ein Schild weist es als „Refuge“ aus. Ein kleines Haus, in dem sich einfache Liegemöglichkeiten aus Holz befinden. Einfach ein Dach über dem Kopf. Mit einer Isomatte wäre dies sicher angenehm, nebst Unterlage fehlt mir jedoch auch Wegzehrung. Einkaufsmöglichkeiten hätte es in Saugues zur Genüge gegeben. Zu spät. In La Clauze komme ich noch an eine sehenswerte Burg mit einem hohen Turm. Aber die Burg befindet sich auf Privatgelände. Den Turm zu besteigen, das wäre Hausfriedensbruch.

Schon vorbelastet wegen ausgebuchter Unterkünfte schaue ich mir das Angebot in Chanaleilles an und rufe bei einer Herberge an. Ich höre „alles belegt“ und versuche es daher bei der zweiten, auch alles belegt. Beim dritten Mal habe ich Glück. Diese Gîte ist jedoch etwas teurer. Kurz nach mir trifft ein Pilger aus der Schweiz ein, der von Vorreservierungen genauso wenig hält wie ich im Normalfall und erkundigt sich nach einem Schlafplatz. Im Garten gibt es noch Fässer mit Matratzen darin und die Inhaberin erklärt, es gäbe nur noch die und nichts anderes mehr zum Schlafen. Für 110 Euro. Etwas teuer, aber der Schweizer nimmt das Angebot an.
Ich bin froh, vorreserviert zu haben, auch wenn es für mich nicht zum Pilgerstil passt. Beim Abendessen treffe ich ein Pilgerpärchen aus Holland, beide weiblich, von denen eine einen stark angeschwollenen Fuß hat. Bei einem Abstieg wäre sie umgeknickt, erfahre ich, und sie würde die nächsten Etappen mit dem Bus fortsetzen. Auf Nachfrage erfahre ich, die verheerende Stelle wäre der Abschnitt gewesen, an dem ich ebenso ein paarmal ausgerutscht war.


[22.07.2023] Von Chanaleilles bis Saint-Alban-sur-Limagnole

Kurz nach dem Aufbruch fragt mich eine Gruppe von drei Pilgern, ob es in der Nähe ein Café gäbe, in dem sie frühstücken könnten. Ich antworte: Nein, hier gibt es außer der Unterkunft nichts. Doch der nächste Ort, „Le Sauvage“, liegt nicht weit entfernt, müsste eine größere Stadt sein und da gäbe es mit Sicherheit etwas.
Als sie weitergezogen sind, erinnere ich mich nun doch, dass es auch hier im Ort ein Café gibt. In dem es auch Schlafplätze gäbe, die am Vortag aber ausgebucht waren. Von einem Pilger hatte ich gehört, das Café wäre am Vortag geschlossen gewesen. Um zusammenzufassen: Nichts Genaues weiß ich nicht.

Nach wenigen Kilometern erreiche ich einen sehr umfangreichen Bauernhof namens „Le Sauvage“. Keine Stadt. Nicht mal ein Dorf. Es gibt dort Übernachtungsplätze, die ich auch auf meiner Liste hatte. Mir erschienen die erst zu teuer - aber mit Abendessen und Frühstück, also Vollpension, wäre es im üblichen Rahmen. Am Vorabend wurde mir erzählt, dieser Ort wäre unter Pilgern sehr beliebt, aber Tage vorher meistens schon ausgebucht. Im weiten Umkreis gibt es außer Landwirtschaft nichts und Le Sauvage hört sich sehr wild an. Der Name erinnert an jene menschenfressende Bestie, die hier ihr Unwesen getrieben haben soll. Ob Wolfmensch, Menschwolf, Werwolf oder nur ein Wolfsrudel - was auch immer - viele wollen dort offenbar übernachten. Vielleicht begegnet man tatsächlich einem Wolf, wenn man hier nachts im Wald umherirrt.

Hier treffe ich die Pilger wieder, die mich zuvor nach einem Café für ein Frühstück gefragt haben. Ich entschuldige mich bei ihnen, denn ich hatte wirklich gedacht, „Le Sauvage“ wäre eine Stadt, in der man auch eine große Auswahl an Cafés finden würde.

Der Wolf, oder was auch immer im 18. Jahrhundert in dieser Gegend sein Unwesen getrieben haben soll, ist häufig präsent. Es gibt auch ein Wappen, das mich an das von Baden-Württemberg erinnert, nur dass anstelle der Löwen eine Art Rehpinscher zu sehen sind.

Nach einem längeren Abschnitt durch den Wald gelange ich wieder an eine Straße und begegne dem Schweizer, der am Rand der Straße im Gebüsch wühlt. Er würde Myrtilles ernten, erfahre ich. Blaubeeren. Ich hatte diese Sträucher zwar schon gesehen, aber ohne Früchte daran. Man muss schon genau hinsehen. Jetzt erkenne ich sie auch und ernte einige. Kurz darauf komme zu einem großen Schild, das erklärt, hier befände sich die „Fontaine de l'Ora St Roch“. Einst, vor vielen Jahren, hätte sich hier eine Pilgerherberge befunden. Von der ist nichts mehr zu sehen, aber die Rochusquelle (mit der Figur des Sankt Rochus) ist noch vorhanden. Und das Wasser ist hervorragend. Zudem sind meine Trinkvorräte fast erschöpft. Freudig fülle ich meine Flaschen auf.
Wenige Meter weiter erreiche ich eine Kapelle, die neu zu sein scheint und laut Information im letzten oder vorletzten Jahrhundert erbaut sein soll. Dort werde ich von einem älteren Mann begrüßt, bei dem ich einen weiteren Stempel für meinen Pilgerausweis bekomme.

Mein Weg führt mich ein kurzes Stück an einer Straße entlang, da lese ich ein Schild „Región Occitanie“. Okzitanien. Viele Franzosen meinen, die Menschen in dieser Region würden komisch sprechen und äffen gerne deren Mundart nach - wie Schemeng, Domeng, Mateng. Ich finde aber, die sprechen verständlicheres Französisch. Zumindest für Leute aus dem deutschen Sprachraum. Wie mich. Was der gemeine Franzose auslässt, sind die Wortendungen, und die spricht der Franzose in Okzitanien aus. So, wie ich es von meiner Sprache gewohnt bin. Mehr oder weniger.
Fast bin ich schon am Ziel der heutigen Etappe, als ich am Stadtrand von Saint-Alban-sur-Limagnole durch einen weitläufigen Schlosspark wandere. Die ganze Anlage wird heute als Großpsychiatrie genutzt.

Nach einem kurzen Abstieg vom Schlosspark hinunter erreiche ich auch die Herberge. Der Inhaber scheint ein großer Abenteurer zu sein, die Zimmer sind alle nach Nationalparks in Nordamerika benannt. An der Wand des Gemeinschaftsraums hängt ein Kanu. Dort finde ich auch eine Landkarte, die einen Ausschnitt des Chemin Compostelle darstellt. Darauf sehe ich, dass es bald drei Wegvarianten gibt, und die liegen zwischen Figeac und Cahors.
Eine nördliche führt über Rocamadour, eine mittlere durch ein Tal namens Vallée du Célé und die südliche ist die Standardroute. Doch bis ich Figeac erreicht habe, habe ich noch einige Tage bis zur Wahl einer der drei Varianten.

Auf dem zentralen Platz von Saint-Alban-sur-Limagnole ist eine Haubitze aufgestellt, die im 1. Weltkrieg den Deutschen abgenommen wurde. Wie in fast allen Orten, durch die ich komme, wird auch hier auf einem Denkmal an die vielen Gefallenen der beiden Weltkriege erinnert. Es war eine düstere Zeit, in der an grenzüberschreitendes Pilgern nicht zu denken war.


[23.07.2023] Von Saint-Alban-sur-Limagnole nach La Chaze-de-Peyre

Die zwei großen Herbergen im Ort waren am Vortag vollständig ausgebucht. Morgens sehe ich auch, warum. Eine größere Schülergruppe ist unterwegs.

Im Zentrum von Aumont-Aubrac, wo ebenso eine Wolfsstatue steht, treffe ich die Holländerin wieder, die Tage zuvor mit dem Fuß umgeknickt war. Laufen kann sie immer noch nicht und legt ihre Tagesetappen weiterhin mit dem Bus zurück. Da kommt mir eine Idee. Da ich in meiner Trinkflasche immer noch Wasser von der Rochusquelle habe und der christlichen Legende zufolge war dieser Rochus jemand, der sich um Kranke kümmerte. Ich biete der Holländerin das Wasser an und dankbar nimmt sie ein paar Schlucke davon. Seine Quelle hat vielleicht heilende Wirkung.

Ab und zu sieht man Pilger, die mit einem Esel unterwegs sind.

Als ich das Dorf La Chaze-de-Peyre erreicht habe, der Weg aber wieder aus dem Ort herausführt und laut Navigations-App noch 5 Kilometer bis zum Ziel fehlen, bin ich irritiert. Unterwegs treffe ich eine Seniorengruppe und laufe mit ihnen den Rest des Weges bis zur Unterkunft gemeinsam. Dort treffe ich auch den Schweizer wieder, der sich in der Herberge gegenüber eingemietet hat. Diese liegt nur wenige Meter entfernt und ich gehe ohne Schuhbekleidung zu ihm hinüber. Dort fragt mich eine Pilgerin erstaunt, ob ich den ganzen Jakobsweg barfuß laufe. Ich antworte ihr Ja, ich würde den ganzen Weg ohne Schuhe laufen. Doch der Schweizer verdirbt mir den Spaß und erklärt ihr, ich hätte Schuhe dabei.

Es gibt rundum nichts, außer Landwirtschaft und zwei Gîtes. Abendessen ist in meiner Unterkunft namens Le 4 Chemins inbegriffen und über solch ein Angebot bin ich immer froh, wenn es in der Nähe weder Einkaufsmöglichkeiten, noch Restaurants gibt.
Von der Herbergsverwalterin erfahre ich, dass es mehrere Orte namens La Chaze-de-Peyre gäbe und Peyre ein alter Name für Stein sei. So löst sich meine vorherige Irritation, als ich einen Ort mit gleichem Namen schon fünf Kilometer vor dem Ziel erreicht hatte.
Mit dem Abendessen müssen wir leider länger warten, da noch ein verspäteter Pilger eintreffen würde. Erst kurz nach 20 Uhr erscheint er und schlingt das Mahl herunter.

Nachts zieht ein Gewitter auf. Eine Stunde lang sind in der Nähe Donner und Blitze zu hören und zu sehen.


[24.07.2023] Von La Chaze-de-Peyre nach Saint-Chély-d'Aubrac

Der Spätankömmling hatte am Vortag abends noch seine Wäsche gewaschen und im Garten auf die Leine gehängt. Morgens hängt sie immer noch dort. Während er seine triefend nassen Klamotten in eine Plastiktüte packt, begebe ich mich schon auf den Weg. Anfangs gibt es etwas Nieselregen, doch in der Nähe ziehen sich die Wolken zusammen und Blitze sind zu sehen. Plötzlich öffnen sich die Himmelsschleusen. Eine Herde Kühe rettet sich unter die Bäume, während ich im Schutz einer Tanne den Regenüberzug und die Jacke auspacke, um mich gegen den Niederschlag zu schützen.

Der Regenguss lässt nach und ich setze meinen Weg über lange Pfade fort, die an weitläufigen Wiesen mit Herden von Pferden und Kühen vorbeiführt.

In der nächsten Ortschaft ist wie schon häufig zuvor eine seltsame Installation zu sehen, die vielleicht ein Pranger sein könnte. Wahrscheinlich dient dies dazu, Vieh vor einen Karren zu spannen.

Dort begegne ich auch einem Pilger, der erzählt, er habe die vergangene Nacht im Zelt verbracht. Noch nie zuvor hätte er solch ein Unwetter erlebt, sogar der Boden hätte unter ihm gebebt.

Den Namen Aubrac scheint es öfters zu geben. Dies muss wohl der bekannteste so lautende Ort sein, da mir diese Klosteranlage mit der umfangreichen Kirche und dem Turm von Bildern bekannt vorkommt. Es ist eine winzige Ortschaft, die ihre glorreichen Zeiten wohl schon lange hinter sich hat. Hier entdecke ich eine kleine Zuflucht für Pilger. Wahrscheinlich gratis. Aber ich hatte mich schon bei einer Herberge in Saint-Chély-d'Aubrac angemeldet.

In der Herberge hat sich auch eine Gruppe von insgesamt 8 Leuten einquartiert, die mit dem Rad unterwegs sind. Ich erfahre, dass sie jedes Jahr so eine Tour unternehmen und wegen der Anzahl von Personen ihre Unterkünfte bereits ein Jahr im Voraus reservieren. Diesmal habe ich meinen Platz für die Nacht sicherheitshalber schon am Vortag bestellt, was wohl die richtige Entscheidung war, da diese Herberge bis zum letzten Platz ausgebucht ist.
Nachts blinkt und leuchtet es in allen Ecken des Schlafsaals, da die Radfahrer mit einem ganzen Arsenal an Technik ausgerüstet sind und ihre Geräte bis zum nächsten Morgen aufladen. Sie folgen dem sehr sozialen Grundprinzip, dass die ersten nach einer Weile haltmachen und solange warten, bis auch der letzte der Gruppe eingetroffen ist. Ohne Wenn und Aber.


[25.07.2023] Von Saint-Chély-d'Aubrac nach Estaing

Die Radfahrer sind Frühstarter, so bin ich der einzige im Raum, der nach dem Frühstück noch seinen Rucksack packt.
Nach einem Aufstieg aus dem Ort folgt eine Bilderbuchlandschaft.

Diese Gegend nennt sich nach dem Fluss Lot Vallée du Lot, an dem einige besonders sehenswerte Ortschaften liegen. Wie das mittelalterliche Saint-Côme-d'Olt. Am Ortsanfang weist ein Schild mit der Aufschrift „Les plus beaux villages de France“ darauf hin, dass auch diese Gemeinde in die Liste der besonders sehenswerten Dörfer Frankreichs aufgenommen wurde.

Wie häufig, wenn man in einer besonders sehenswerten Gegend unterwegs ist, muss man über lange Trampelpfade aufsteigen, um später ebenso viele Höhenmeter wieder hinabzusteigen. In der Ferne ist eine Burg zu sehen, die wie die der Hohenzollern in der schwäbischen Alb auf einem kegelförmigen Hügel thront, aber zu weit abseits des Weges liegt, als dass ich mir den Umweg leisten kann. Direkt am Weg jedoch befindet sich eine eindrucksvolle Kirche im romanischen Stil namens „Eglise Romane de Perse“, deren Besichtigung noch in meinen Zeitplan passt. Wie oft zuvor hat sich wieder herausgestellt, dass die Unterkünfte meines heutigen Etappenziels Espalion bereits ausgebucht sind und ich noch einen Ort weiterlaufen muss, um die Gîte communal von Estaing zu erreichen. Diesmal ist es mir recht. Bei der Stadt Estaing handelt es sich um einen Ort mit einer besonderen Geschichte. Genaugenommen geht es um Persönlichkeiten aus dem Stammbaum der d'Estaing, die sich durch bedeutende Heldentaten hervortaten und um Guillaume, der Richard Löwenherz auf dem Kreuzzug begleitet hatte, sowie Dieudonné, der dem französischen König Philipp II in einer Schlacht das Leben rettete. Der frühere Präsident Giscard d'Estaing hingegen soll kein direkter Nachfahre sein, sondern den Titel durch Heirat erworben haben.

Als ich nach der Besichtigung der „Eglise de Perse“ wieder unterwegs bin, habe ich noch das Telefonat mit der Herbergsverwalterin mit dem Hinweis „depeche-toi“ im Kopf, da die Unterkunft bald schließen würde. Dem Etappenplan zufolge liegen noch 12,5 km vor mir und dafür reicht die Zeit nicht. Die Navigation von Google Maps hingegen berechnet 8 Kilometer. Das würde zeitlich noch hinkommen. Diese Technik sucht die kürzeste Strecke. Oft führt diese über die Schnellstraße, während man bei der Planung des Jakobsweges für den Wanderer überwiegend angenehme Wanderwege ausgesucht hatte. Dabei werden auch Umwege in Kauf genommen. Leider muss ich nun die kürzeste Strecke nehmen, um noch vor Schließung der Herberge anzukommen. Zudem komme ich an der Schnellstraße bei einem „Super U“ vorbei, was gut ist, denn in der kommunalen Unterkunft gibt es nur die Übernachtung und kein Abendessen.


[26.07.2023] Von Estaing nach Espeyrac

In der Herberge gibt es eine Kaffeemaschine zur Selbstbedienung und dazu habe ich noch ein Stück Brot, das ich am Vortag beim „Super-U“ besorgt habe. Als ich mit meinem kleinen Frühstück vor der Unterkunft Platz genommen habe und mampfe, flattert ein Rabe herbei und stolziert auf dem Tisch herum. Ich könnte ihn direkt aus der Hand füttern, da er überhaupt keine Menschenscheu zeigt. Plötzlich sehe ich einen Mann mit Rucksack, der wiederholt durch die Finger pfeift. Der Rabe reagiert, flattert zu ihm, setzt sich auf seine Schulter und der Mann setzt seinen Weg fort. Was für ein seltsames Paar!

Die heutige Etappe beginne ich etwas später, da ich morgens noch das Chateau d'Estaing besuchen will. Das öffnet um halb elf. Nach einem recht kurzen Rundgang durch das Schloss bin ich wieder auf dem Weg. So wirklich spannend war die Besichtigung nicht. Die Räume enthielten überwiegend eine Ausstellung über das Leben und Wirken des früheren Präsidenten Giscard d'Estaing und über die Kleidermode seiner Frau. Ein Teil des Schlosses und der Turm waren für eine Besichtigung leider gesperrt.

Mein heutiger Weg führt über eine Brücke, aus der Stadt heraus und eine Weile durch Wald. Von oben bietet sich mir noch ein letzter Blick hinunter auf die Stadt d'Estaing. Nach einer kurzen Pause in einer kleinen Ortschaft setze ich meinen Weg durch eine landwirtschaftliche Gegend fort, bis plötzlich keine rot-gelben Markierungen mehr zu sehen sind. Wie in so einer Situation üblich, greife ich auf die Navigation per Handy zurück, die mich zwangsläufig bis zur Schnellstraße und darauf weiter führt. Das ist mit dem vielen Verkehr immer unangenehm, aber die sicherste Methode, um ans Ziel zu kommen, oder in der nächsten Ortschaft des Jakobsweges auf den markierten Weg zurückzufinden.

Kurz vor dem Ziel betreten zwei belgische Pilgerinnen aus einer anderen Richtung den Weg. Sie sind durch Golinhac gekommen, erfahre ich. Diesen Ort hatte ich aufgrund der zeitweise fehlenden Markierungen verpasst, doch zum Glück fehlen nur noch wenige Meter bis zur Unterkunft, in der ich mir für die heutige Nacht bereits einen Schlafplatz reserviert habe.
Es ist eine sehr ungewöhnliche Herberge. Eher ein großer Garten mit Hühnerställen und Hütten. Die Verwalterin führt mich über einen Trampelpfad hinauf bis zu einem großen runden Zelt und erklärt mir, darin befände sich mein Schlafplatz. Die Unterkunft hat wirklich Stil! Es gibt sogar etwas, das die Franzosen „Toilette sèche“ nennen. Ein Trockenklo mit einer Tüte Kompost und einer Schaufel daneben, was ökologisch ist und ohne Spülung auskommt.

Für alle Pilger findet ein gemeinschaftliches Abendessen statt, das ebenso auf Spendenbasis ist wie diese Unterkunft. Das beginnt mit einer Vorstellungsrunde. Dabei soll jeder ein paar Worte zu sich sagen und dem, was ihm auf dem Herzen liegt. Als ein deutscher Pilger aufsteht, seine Hände faltet und mit den Worten beginnt: „Mir liegt etwas sehr Wichtiges auf dem Herzen“, denke ich zuerst, es würde ein Tischgebet folgen. Doch er setzt fort: „Ich vermisse meine Socken! Hat irgendjemand von euch meine Socken gesehen?“ und gibt noch eine genaue Beschreibung ab. Demnach sind sie Schwarz-Gelb gestreift. Doch niemand meldet sich. Solche Socken hat offenbar niemand gesehen.

In der runden Hütte, die unter der Bezeichnung Yurte bekannt ist, befinden sich eine einzelne Matratze und zwei doppelte, von denen ich mir eine mit einem Franzosen teilen muss. Von diesem erfahre ich, nachts müsste er ein Gerät gegen Atemaussetzer verwenden und er fragt, ob ich etwas dagegen hätte. Natürlich habe ich damit kein Problem, antworte ich.
Was er nicht erzählt hat, merke ich nachts. Und es raubt mir den Schlaf. Nicht nur, dass er sich fest in der Mitte der Doppelmatratze positioniert hat und mich an den äußersten Rand des Zeltes gedrängt hat. Pausenlos wendet und dreht er sich im Schlaf und tritt dabei immer wieder so heftig zu, als würde er davon träumen, bei einem Fußballspiel Elfmeterschüsse vollführen zu müssen. Solch eine üble Störung der Nachtruhe wie diese habe ich noch nie zuvor erlebt.


[27.07.2023] Von Espeyrac nach Conques

Die Unterkunft in alternativem Stil befindet sich kurz vor Espeyrac. Nachdem ich mich von dieser anstrengenden Nacht erholt und einen kurzen Aufstieg überwunden habe, erreiche ich auch schon den nächsten Ort mit dem Namen Sénergues. Vor der Ortskirche, von denen es in jedem noch so kleinen Dorf eine gibt, steht ein Tisch mit kleinen Kuchen und Früchten. Ein Mann in weißem Mönchsgewand bietet mir eine Tasse Kaffee an und lädt mich ein, mich an den Leckereien zu bedienen. An jedem Donnerstag, erfahre ich, würde eine Messe mit anschließender Verköstigung von Pilgern abgehalten werden. Der weiß gekleidete ist ein Dominikanermönch aus Conques.
In Sénergues steht ein Turm, den ich natürlich besteige. Er befindet sich in Privatbesitz und die Dame, bei der ich den Eintritt zahle, erklärt, sie wäre eine echte Nachfahrin der Herren des Schlosses, zu dem auch dieser Turm gehört.
Auf dem Weg überhole ich den Dominikanermönch, der nur sehr langsam vorankommt, da er immer ein paar Schritte geht und dann auf die Knie fällt, um einen Rosenkranz zu umklammern und ein Gebet zu murmeln.

Als Ziel für heute hatte ich mir eine sehr kurze Etappe ausgesucht. Von Espeyrac nach Conques sind es nur etwas mehr als 10 Kilometer. Die Stadt, besser gesagt, das Dorf Conques, das offiziell gerade einmal 240 Einwohner zählt, bietet einiges an interessanten Dingen, die mir eine Besichtigung aufnötigen. Zuallererst seine riesige Kathedrale. Ihr Anblick enttäuscht mich erst, da sie vom oberhalb gelegenen Pilgerweg aus wie eine Großbaustelle wirkt. Aber zum Glück nur von dort.
Der wichtigste Grund für die kurze Etappe ist, dass mir nach der furchtbaren Nacht nicht nach einer langen Wanderung zumute war.

Noch habe ich keine Unterkunft und leider erfahren, dass ich in der „Abbaye“ (der Klosterabtei) nur auf Anfrage, und auch nur vielleicht, ein Bett bekommen könnte. Kurz öffne ich eine Tür eines Gebäudes, das ich für die Abtei halte und blicke in ein Dutzend überraschte Gesichter, die rund um einen Tisch sitzen. Ich frage nach der Abtei und bekomme erklärt, diese befände sich hinter der Kathedrale. Wahrscheinlich habe ich die Gruppe bei ihrer Kontemplation gestört.

Heute habe ich Glück und bekomme noch ein freies Bett in einem Raum mit einer Familie, die mit einem Esel unterwegs ist. Ihr Esel übernachtet aber nicht dort, daher ist noch ein Platz für mich frei.
In den Herbergen ist es üblicherweise verboten, die oberen Bereiche, wie auch den Schlafsaal mit Wanderschuhen zu betreten. Die halten daher im Eingangsbereich eine Art Meeting ab.

Ein weiterer weiß gekleideter Mönch richtet vor dem Abendessen ein Grußwort an alle Pilger. Danach fragt mich ein Herbergsverwalter, ob ich bereit wäre, bei der abendlichen Messe ein paar Worte vorzulesen. Es wäre Tradition, dass in jeder Sprache der anwesenden Pilger jemand einen kurzen Text vorträgt. Allzu gerne erkläre ich mich dazu bereit, denn mit dem Vortragen von Kurzgeschichten habe schon etwas Erfahrung. Dies jedoch wäre die erste Lesung in einer Kirche. Sie klappt sogar recht gut. Es ist auch nur ein sehr kurzer Text von zwei Zeilen.

Das sogenannte Tympanon der Kathedrale (eine Steinkunst-Schnitzerei über dem Portal) ist eine Besonderheit, für die sogar eine abendliche Lichtshow entwickelt wurde. Der Benediktinermönch, der uns Pilger zum Abendessen begrüßt hatte, erklärt es in allen Einzelheiten und beschreibt sehr ausführlich, was es damit auf sich hat. Dazu stellt er jede Figur nach, die auf dem Tympanon dargestellt ist und übt sich in Verrenkungen, schneidet Grimassen, um dann wieder mit den Armen zu wedeln, um einen der Engel darzustellen.
Um einen wesentlichen Punkt aus seiner Erklärung herauszugreifen, das Tympanon ist weniger moralischer Art, stellt nicht Gut und Böse, oder Himmel und Hölle dar. Es geht um Ordnung und Chaos. Auf der linken Seite das wohlgeordnete System von Kirchenoberen und weltlichen Herrschern, rechts das heillose Durcheinander eines Volkes ohne Führung.


[28.07.2023] Von Conques nach Livinhac-le-Haut

Vor der Herberge treffe ich auf die Familie, die mit Esel reist und nach einem kurzen Gespräch mit ihnen beginne ich die heutige Etappe. Am Ortsende befindet sich auf einem Hügel eine Rochus-Kapelle, bei deren Besichtigung ich ein Ehepaar vom Vorabend treffe. Mittlerweile bin ich schon einige Tage unterwegs und daran gewöhnt, mich fast mit allen in Französisch zu unterhalten. Die einzigen Ausnahmen waren am Vortag einer der Hospitaleros in Conques, der aus Frankfurt am Main stammt. Und ein deutscher Pilger.
Die Wanderung am heutigen Tag stellt keine besondere Herausforderung dar. Fast 20 Kilometer führt der Weg nur leicht auf- und abwärts. Unterwegs treffe ich eine französische Pilgerin, die überraschend gut Deutsch spricht. Sie hätte eineinhalb Jahre in Berlin gelebt, erklärt sie, so sind ihre sprachlichen Kenntnisse nachvollziehbar.

In der recht unansehnlichen Stadt Decazeville besorge ich mir ein paar Lebensmittel, danach beginnt ein steiler Anstieg bei nachmittäglicher Hitze. Als bei einer Kirche namens St. Roch der Höhepunkt erreicht ist, beginnt auch schon ein Abstieg ins Flusstal. Wäre ich in der Nähe des Flusses geblieben, hätte ich mir diese Strapazen ersparen können. Manchmal führt der Jakobsweg über weite Umwege, nur um dem Autoverkehr zu entgehen.

Die Gîte d'étape in Livinhac-le-Haut verwaltet ein sehr nettes und zuvorkommendes Paar, das bereits mehrfach auf dem Jakobsweg gewandert war. Deren Urkunden aus Santiago de Compostela schmücken die Wände im Aufenthaltsraum. Beim gemeinsamen Abendessen auf der Terrasse, wo ich auch den deutschen Pilger von Conques wiedertreffe, erklärt der Gastgeber die drei Wegvarianten ab Figeac und gibt den Pilgern einige Tipps mit auf den Weg. Es gäbe unterwegs keine Bank, daher sollte man sich vorher mit genügend Geld für fünf Etappen eindecken. Ebenso wären die Einkaufsmöglichkeiten rar, wie auch die Gelegenheiten, bei denen man sein Trinkwasser auffüllen könnte.


[29.07.2023] Von Livinhac-le-Haut nach Figeac

An diesem Tag sind so viele Pilger unterwegs, welhalb ich mich gleich am frühen Morgen bemühe, einen Übernachtungsplatz in Figeac zu reservieren.

In St. Felix gibt es die Gelegenheit, eine Pause einzulegen. Dort wirbt ein Schild mit frisch gebrutzeltem Omelett. Leider hätte sich heute die Eierlieferung verspätet, erklärt die Verkäuferin, daher könnte sie im Moment kein Omelett zubereiten.

Bei einem Gespräch zwischen den französischen Pilgern höre ich mit, dass der Ort Mirabel sehenswert wäre. Daher besichtige ich nach einem kurzen Umweg die Kirche. Dort stehen Engelsskulpturen. Eine Statue im Ort ist der Heiligen Johanna gewidmet. Damit scheine ich aber schon auch alle Sehenswürdigkeiten abgehakt zu haben.

Kurz, bevor ich Figeac erreicht habe, treffe ich den deutschen Pilger wieder, der bisher noch keinen Übernachtungsplatz gebucht hat und wandere mit ihm durch die mittelalterliche Altstadt direkt zur Herberge. Der Verwalter erklärt, dieses Gebäude wäre eine ehemalige Klosterunterkunft und meint, wir könnten uns von den drei Zimmern zwei aussuchen. Tatsächlich sind wir noch die einzigen. Etwas später jedoch erscheinen drei französische Pilger, die der Herbergsverwalter irrtümlicherweise für den nächsten Tag eingetragen hatte.


[30.07.2023] Von Figeac nach Thémines

Ich verabschiede mich von dem deutschen Pilger, der wegen Schmerzen an einer Schulter noch einen Tag in der Herberge verweilen will. Er hat sich den Standardweg vorgenommen, während ich mich nun endgültig für den Weg über Rocamadour entschieden habe. Zu dieser Wegvariante stehen mir noch weniger Informationen zur Verfügung. Denn während ich für die Via Gebennensis eine Seite mit einer guten Übersicht zu Entfernungen und Unterkünften für die bisherige hatte, muss jetzt eine Liste mit Unterkünften auf der Rocamadour-Variante genügen, die ich in Conques per Handy fotografiert hatte.

Als ich in der Naturidylle entlang an einem plätschernden Bach wandere, sehe ich die blauen Prachtlibellen, die ich einst für Feen gehalten hatte. Wunderbar! - Ich habe mich für den richtigen Weg entschieden.

Der Ort Cardaillac, der es auch auf die Liste der schönsten Dörfer Frankreichs geschafft hat, verzögert meine Wanderung deutlich, da ich erst den mittelalterlichen Kräuter- und Gemüsegarten besuchen muss. Und danach in der malerischen Ortsmitte noch einen Turm besteigen muss, um ein paar Meter weiter mit einem Bier in einem Biergarten zu sitzen. Das Glück ist fast perfekt, als ein Zieharmonika-Spieler in Begleitung einiger gutgelaunter Gesellen auftaucht. Sie sind gerade unterwegs, um für ein Fest zu werben, das in einer Woche stattfindet, erfahre ich von ihnen. Gerne würde ich noch länger an diesem bezaubernden Ort verweilen, doch liegt ein großer Teil der heutigen Etappe noch vor mir und es ist bereits früher Nachmittag.

Zwar ist der Weg, der über einen wilden Pfad durch den Wald führt, etwas anstrengend, dafür werde ich mit einem Blick auf einen türkisfarbenen See belohnt. Einige Kilometer später gibt es einen Picknickplatz, auf dem sich einige Pilger tummeln. Dort kann man sich auf Donativo-Basis an Kaffee bedienen. Gegenüber gibt es ein Gehege mit einigen Eseln, die sich gerne streicheln lassen.

In der nächsten Stadt namens Lacapelle-Marival ist die einzige Unterkunft, die zu meinem Standard (also preisgünstig) passt, ausgebucht. Daher gibt es nur die Alternative, es bei einem Ort weiter zu versuchen. Zum Ort Theminés muss ich mich beeilen und kürze den Weg abermals über die Schnellstraße ab, da der Jakobsweg über weite Umwege zu führen scheint.
In der Gîte begegne ich einer Dreiergruppe von Pilgern. Es sind zwei Schwestern, die mit ihrem 83-jährigem Vater auf Wandertour sind. Einem so betagten Pilger bin ich bisher noch nie begegnet. Die eine Schwester erzählt, ihr Vater würde oft mit irgendeinem berühmten Sänger verwechselt und zeigt mir auf ihrem Handy ein Foto von einem Mann mit einer langen weißen Mähne. Etwas Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem Foto hat ihr Vater mit Sicherheit, bestätige ich ihr.


[31.07.2023] Von Thémines nach Rocamadour

Zum Frühstück finde ich mich wie von den Verwaltern gewünscht um 7:30 ein und erfahre dann von ihnen, bis spätestens 8 Uhr müsse ich die Unterkunft verlassen haben. Sie haben es eilig, da sie am frühen Morgen einen Termin in einem anderen Ort haben und noch dorthin fahren müssen. Dadurch wird mein Frühstück etwas unentspannt, da ich in weniger als einer halben Stunde noch meinen Rucksack packen, das Bett abziehen und mich frisch machen muss. Doch ich schaffe es in der Zeit und bin kurz vor acht Uhr auf dem Weg.
Als ich das Ortsende von Thémines erreicht habe, fällt mir ein, dass ich noch etwas vergessen habe. Den Stempel für meinen Pilgerausweis! Am Vorabend hatte ich gedacht, darum könnte ich mich in Ruhe noch beim Frühstück kümmern. Zu spät!

Zum Ausgleich für die morgendliche Schmach folgt ein sehr schöner Weg. Als ich am Waldrand außerhalb von einer kleinen Ortschaft wandere, höre ich es kurz rascheln und schon galoppiert etwas so leichtfüßig durch das Unterholz, dass ich nur einen Bürzel davonlaufen sehe. Das muss ein Reh gewesen sein. Etwas später höre ich ein hohes „Määäh“, auf das ein tiefes „Mööööh“ antwortet. Als ich in die Nähe komme, verstummen diese abrupt und hinter einem Weidezaun gehen Schafe auf Sicherheitsabstand.
Bald höre ich eine Kirchenglocke die Mittagszeit verkünden, und wie in den vergangenen Tagen (hatte ich bisher noch nicht erwähnt) werden die Stunden nicht nur einmal, sondern noch ein zweites Mal geschlagen. Das scheint hier üblich zu sein.

Als ich in Gramat eine Pause einlege, ist es die passende Gelegenheit, mir einen Platz in einer Unterkunft in Rocamadour zu reservieren. Das klappt bestens und dabei erfahre ich auch, dass es in dem sogenannten Refuge auch eine Küche zur Benutzung gäbe, aber keine Supermärkte im Ort. Man müsste sich unterwegs mit Vorräten eindecken. Per Handynavigation schaue ich nach der letzten Einkaufsmöglichkeit vor Rocamadour.
Zweimal muss ich dazu vier Kilometer für Hin- und Rückweg in Kauf nehmen, die mich an einer stark müffelnden Kläranlage vorbeiführen, habe mich danach aber mit Croissants, Obst und reichlich Bier eingedeckt.

Der Weg führt an einem fast ausgetrockneten See vorbei. Bei steigenden Temperaturen wird die Wanderung durch lichte Wälder anstrengender, bis der Pfad in eine Schlucht hinabführt. Nachdem ich einen Bach erreicht habe, der fast kein Wasser führt, sehe ich eine Ruine neben der anderen. Es ist ein Tal, in dem sich einst zahllose Mühlen befunden haben, die mittlerweile aber außer Betrieb sind. Dies ist ein sehr spannender Weg, der einmal durch ein größeres Mühlengebäude führt, das an einem steilen Gefälle errichtet wurde. In regenreichen Zeiten hatte ein Mühlrad die Kraft eines Wasserfalls genutzt. Ob hier einst Korn gemahlen wurde? Brauchte man dafür wirklich so viele Mühlen? Als ich weiter durch die Schlucht wandere, die bald einen Abhang hinabführt, an dem ich ins Rutschen gerade, kommen mir Zweifel, dass man einst den Aufwand betrieben hatte, Säcke mit Korn so weit heraufzuschleppen.

Als Rocamadour vor mir erscheint, fällt mir ein, dass es auch Gesteinsmühlen gab. Das ergibt deutlich mehr Sinn. Wenn dies rundum überwiegend Kalkstein wäre, und danach sieht es aus, hätte man diesen vor Ort gefördert und gemahlen, um ihn nach Rocamadour zu bringen und dort als Mörtel zu verwenden. Mit Sicherheit gab es einen großen Bedarf daran, um die Kathedrale, die Burg und die Siedlung zu errichten, die wie an die Felswand geklebt sind.

Zuvor war ich in absoluter Wildnis unterwegs, in Rocamadour hingegen wälzen sich Menschenmassen durch die Innenstadt. Abends ebbt die Flut an Touristen so weit ab, dass ich mich in Ruhe einer Besichtigung der Sehenswürdigkeiten widmen kann. Es ist ein wirklich sehenswerter Ort. Die Kathedrale befindet sich wie viele andere Gebäude hier unter einem überhängenden Felsen, auf dem ein Turm errichtet ist.

Als ich im Garten der Herberge meine Wäsche aufhänge, komme ich mit einer französischen Pilgerin ins Gespräch, die beharrlich eine Pflanze beobachtet. Plötzlich sagt sie, ich solle mir diese genau anschauen und ich sehe, wie sich eine gelbe Blume innerhalb weniger Sekunden entfaltet. Es wäre eine magische Blume, erklärt sie. Alles in perfektem Deutsch. Auf meine verwunderte Nachfrage erfahre ich, dass sie viereinhalb Jahre in Berlin Französisch unterrichtet hat.
Sie würde niemals eine Unterkunft reservieren, erfahre ich weiter, das wäre ihr zu stressig. Es wäre einfacher, vor Ort zu fragen, ob noch ein Platz frei wäre und meistens ergäbe sich etwas. Und wenn nicht, könnte man ja einfach sein Zelt irgendwo aufschlagen.
Da ich keines dabei habe, bleibt für mich der Stress der Vorab-Unterkunftssuche weiter erhalten.
Die französische Pilgerin erzählt auch, von hier würde sie einen anderen Weg einschlagen, der nach Clermont-Ferrand führt. Von Rocamadour würden verschiedene Wege ausgehen und man müsse genau darauf achten, in welche Richtung sie führen.


[1.08.2023] 2. Tag in Rocamadour

In der Herberge von Rocamadour hatte ich nachgefragt, ob ich auch eine zweite Übernachtung buchen könnte und die Verwalterin hatte mir das ohne weitere Nachfrage gewährt. In den vergangenen Tagen, an denen ich oft 5 oder 10 Kilometer weiterlaufen musste, um einen Platz in einer Unterkunft zu bekommen (natürlich einer halbwegs preiswerten) waren die Etappen ziemlich anstrengend. Zwar hatte dies nicht so verheerende Auswirkungen wie Blasen an den Füßen bis zu Entzündungen an den Kniegelenken. Dennoch hatte ich einen Tag Wanderpause wirklich nötig. Außerdem ist Rocamadour ein ganz besonders magischer Ort.

Am Ortsende führt ein Kreuzgang mit Bildnissen der wichtigsten Phasen aus dem Leben von Jesus (Geburt, Kreuzigung, Wiederauferstehung) in die Höhe, bis man die Burg erreicht. Da diese an diesem frühen Morgen noch geschlossen ist, vertrete ich mir noch etwas die Beine, um wieder zurückzukehren und die Burg später zu besichtigen. Der Blick von dem Turm hinab wäre für jemand, der unter Höhenangst leidet, mit Sicherheit der wahre Horror.

Es gibt eine alte Legende, die von Roland erzählt. Dem mächtigsten aller Ritter, die einst Kaiser Karl den Großen auf seinen Feldzügen gegen die Mauren begleiteten. Es ist das sogenannte Rolandslied. Genaugenommen geht es, was Rocamadour betrifft, um sein Schwert namens Durendal. So etwas wie Excalibur aus der Artus-Legende. Oder wie in den Geschichten von Tolkien, in denen bedeutende Schwerter einen oder sogar mehrere Namen haben. Nach längerer Suche finde ich auch ein Schwert in der Felswand. Roland soll es nach einem verlorenen Kampf in den Pyrenäen fortgeschleudert haben. Nun steckt Durendal hier oben, 400 Kilometer weit entfernt. Ritter Roland hatte offenbar unvorstellbare Kräfte.

Von der Herbergsverwalterin erfahre ich, es gäbe einen Supermarkt, den man leicht zu Fuß erreichen könnte. Nicht in diesem Ort, aber in weniger als einer halben Stunde erreichbar. Ich hätte am Vortag den Aufwand vermeiden können, meine Einkäufe 10 Kilometer weit bis Rocamadour zu schleppen.

Auf dem Weg zum Supermarkt fallen mir Wegweiser auf, die auf eine „Grotte des Merveilles“ hinweisen, die Höhle der Wunder. Eine Tropfsteinhöhle mit Steinzeitmalereien! Da muss ich hin, die Einkäufe können warten.
Ein Führer (angeblich darf man dieses Wort nicht mehr schreiben. Also ein Guide) erklärt zuerst die Entstehung der Stalagmiten und der Stalaktiten. Angeblich wäre das schwierig zu merken, welche von denen welche sind, aber das ist eigentlich ganz einfach zu erklären. Die Stalaktiten hängen oben. Daher der Name. In einem chemischen Prozess entstehen aus kalkhaltigem Wasser und Kohlendioxid diese Gebilde. Dies wird alles in Französisch erklärt, daher verstehe ich mehr oder weniger nur das, was ich schon weiß. Als nächstes folgen Malereien vom Cro-Magnon-Menschen, welche verschiedene Tiere darstellen sollen. Bis auf Chien und Chat kenne ich keine Tiernamen in Französisch. Es sind weder Hunde noch Katzen dargestellt, daher muss ich in dem Fall passen. Auch der Abdruck einer Hand ist zu sehen. Letztendlich ist bei der Interpretation der Zeichnungen sowieso die Fantasie gefragt. Der Besuch der Grotte hatte sich auf jeden Fall gelohnt.
Im Supermarkt um die Ecke decke ich mich mit Lebensmitteln ein. An der Fassade sehe ich auch rot-weiße Wegmarkierungen. Hier geht mein Weg morgen also weiter. Nach dieser Erkenntnis kehre ich zur Unterkunft zurück.

In Rocamadour gibt es für Pilger eine Urkunde namens Rocastela, hatte ich bei der Herbergsverwalterin erfahren. So etwas wie die Compostela in Santiago de Compostela. Normalerweise gäbe es sie in dieser Unterkunft. Die Vordrucke dafür sind aber momentan aus.
Es ist das einzige Zertifikat auf dem französischen Jakobsweg. Da ich es gerne hätte, frage ich bei der Kathedrale nach, werde weiter zum Shop verwiesen, in dem die Verkäuferin den Kopf schüttelt und erklärt, diese gäbe es hier nicht. Einige Treppenstufen weiter durch den Ort und beim Touristenbüro frage ich eine Mitarbeiterin nach der Rocastela, von der ich einen Stempel in meinen Pilgerausweis bekomme. Auf erneute Nachfrage erklärt sie, dies wäre doch die Rocastela.

Nach weiteren Versuchen in der Kathedrale und bei der Herbergsverwalterin gebe ich es endgültig auf, die Urkunde zu bekommen. Es gibt sie offenbar nicht mehr.


[2.08.2023] Von Rocamadour nach Montfaucon

Am frühen Morgen laufe ich den Prozessionsweg hinauf bis zum Supermarkt, bei dem ich am Tag zuvor die rot-weißen Markierungen gesehen habe. Als ich die Richtung mit meiner Navigations-App prüfe, stimmt etwas nicht. Ich werde in die umgekehrte Richtung geführt! Offensichtlich ist dies der Weg nach Clairmont-Ferrand, von dem die französische Pilgerin gesprochen hatte. Aber dies ist nicht mein Ziel. Daher kehre ich um, nehme nach der Burg den Abstieg, nochmal bei der Herberge vorbei und hinab bis ins Flusstal. Dort finde ich die rot-weißen Markierungen. Perfekt!

Nun geht es an einem Flussbett entlang, doch irgendwann wird es wieder komisch. Meine Navigations-App empfiehlt erneut die entgegengesetzte Richtung. Alternativ einen Weg, der einige Kilometer länger ist. Lieber diesen, statt schon wieder zurücklaufen. Zudem ist es interessant, was ich auf den Wegweisern lese. Wenn ich ihnen folge, fände ich eine Grotte. An einem See gibt es Hinweisschilder, auf denen erklärt wird, der Fluss Lot würde im Untergrund verschwinden und an dieser Stelle wieder erscheinen. Äußerst spannend!

Bald erreiche ich eine Pforte, schummle mich hindurch und erreiche einen tiefblauen See. Als ich um ihn herumgelaufen bin, treffe ich auch auf die Grotte. Innen ist der Gang nach wenigen Metern durch ein Eisengitter versperrt. Wieder draußen, erreiche ich etwas weiter ein Felsentor. Ein mystischer Ort.

Zurück an der Pforte betrachte ich das Hinweisschild genauer. Hier muss es Unterwasserhöhlen geben, durch die man bis zu 25 Kilometer weit tauchen kann. Das ultimative Abenteuer! Da erinnere ich mich, dass es vor einer Weile, vielleicht im vergangenen Jahr, eine Rettungsaktion gab, bei der man nach einem Unwetter die in den Unterwasserhöhlen verschollenen Taucher zu bergen versuchte. Hat sich dieses Drama womöglich hier abgespielt? Könnte gut sein. So ein Abenteuer wäre definitiv nichts für mich, denke ich, wenn ich mich sogar auf der Oberfläche so leicht verirre. Sogar auf markierten Wegen.

Nach einem Weg durch den Wald aufwärts führt mich der Weg viele Kilometer an der Straße entlang. Die Handy-Navigation ist leider nur bedingt hilfreich. Wo sie einen Weg vorschlägt, endet dieser zweimal an einem „Privat! Betreten verboten- Schild“. Endlich finde ich wieder die rot-weißen Zeichen und diesmal bin ich wieder auf dem Pfad, auf dem man einfach nur den Markierungen folgen muss.

Die Wolken verdichten sich, ein Sturm braut sich über mir zusammen und kurz darauf beginnt ein heftiger Regenschauer. Durchnässt schaffe ich es in die Herberge. Doch es hätte schlimmer kommen können.

Sicherheitshalber hatte ich von unterwegs wieder ein Bett reserviert. Am Telefon wurde ich vorgewarnt, es gäbe ein Live-Konzert am Abend. Falls mich das stören sollte. Keineswegs! Das wäre mir sogar sehr recht.

Vor der Herberge ist eine Bühne aufgebaut und davor sind einige Stühle aufgestellt. Wetterbedingt muss das Konzert jedoch in der Kirche stattfinden. Es ist wirklich ein besonderes Erlebnis! Zudem erfahre ich, dies wäre das einzige Konzert, das in Montfaucon stattfindet. Nur einmal im Jahr! Bei der Veranstaltung werden Spenden für die Renovierung des Daches der Pilgerherberge gesammelt. Bei genauerer Betrachtung des Gebäudes fällt mir auf, dass das Dach in der Mitte eingesunken ist. Hier gibt es wirklich einiges zu tun!


[3.08.2023] Von Montfaucon nach Vers

Morgens bin ich der letzte Pilger, der die Unterkunft verlässt und laut Hinweis soll der Letzte die Tür hinter sich verschließen. Das klappt nicht. Trotz Zahlenschloss lässt sich die Tür wieder öffnen. Ich versuche es noch einmal, aber es funktioniert nicht und so lasse ich es, wie es ist. Wer soll hier überhaupt einbrechen und wenn, was gäbe es zu stehlen? Nicht viel. Vielleicht die Kaffeemaschine.

Im nächsten Dorf Labastide-Murat lese ich den Hinweis, es gäbe ein Museum, das „Roi Murat“ gewidmet wäre. König Murat. Der Name sagt mir nichts. Die französischen Könige hießen ja alle Louis. Oder Philippe. Zum Glück kann ich auf meinem Handy schauen, was es mit diesem Mysterium auf sich hat und lese, einst hieß dieser Ort Labastide-Fortunière und wäre zu Ehren seines berühmten Sprösslings umbenannt worden. Dieser heiratete die jüngste Schwester von Napoleon Bonaparte und wurde zur Belohnung zum König von Neapel ernannt. Als es brenzlig wurde, wechselte er die Seite, um gegen Napoleon zu kämpfen. Später trat dieser Murat wieder an die Seite Napoleons und beanspruchte nach dessen letzter Niederlage sein Amt, König von Neapel, erneut. Dieser Wunsch wurde ihm nicht gewährt und er wurde stattdessen standrechtlich erschossen. Dieser Murat war offensichtlich eine Art Opportunist, der zu oft die Seiten gewechselt hatte.

In Cras, einem Ort, in dem es zwei Gîtes gibt, hatte ich per Telefon versucht, eine Unterkunft zu reservieren, aber niemanden erreicht. Außer Anrufbeantwortern. Als ich Cras schon verlassen habe, meldet sich mein Handy mit einem Rückruf. Eine Dame aus Cras meldet sich, der ich erkläre, ich wäre mittlerweile schon weitergelaufen und in Richtung Vers. Sie empfiehlt mir, mich bei Toni zu melden, der die Pilgerherberge in Vers betreut. Als ich bei Toni anrufe, erfahre ich, dass seine Unterkunft schon „complet“ wäre, doch nur wenige Kilometer hinter Vers gäbe es eine weitere Herberge, bei der ich noch einen Übernachtungsplatz bekommen könnte. Er nennt den Namen der Unterkunft, Grand .. - mehr kann ich mir nicht merken.
Außerhalb von Cras folgt ein äußerst unangenehmer Abstieg, ein Schild hatte mich schon vorgewarnt. Es ist ein Weg aus Schlamm, der an meinen Schuhen klebt. Als ich endlich den furchtbaren Abschnitt hinter mir habe, bin ich erleichtert, um nun ein Stück durch Naturidylle zu wandern. Einige Kilometer geht es an einer Felswand weiter. Einige Hausruinen liegen am Wegesrand, die an Höhlen angebaut sind. Den Ort Vers sehe ich schon in der Ferne.

Vers ist ein wunderschöner Ort mit einer Brücke und einem Wasserfall, an dem ein paar Jugendliche mit Kajaks herumtollen. Aber die Pilgerunterkunft mit dem Aushang „complet“ wirkt abweisend. Es gibt auch einen Campingplatz „Camping Municipal“ und ich versuche mein Glück dort. Ohne Zelt gibt es keine Übernachtungsmöglichkeit, aber die Dame am Empfang ist sehr hilfsbereit, telefoniert eine Weile und erklärt freudestrahlend, sie hätte für mich einen Platz mit Abendessen und Frühstück in einer Herberge reserviert. Sie schreibt mir einen Namen auf einen Zettel. Ich müsse dorthin nur 500 Meter weiterlaufen.
Bald erreiche ich eine Unterkunft, sehe aber auf dem Zettel einen anderen Namen: La Cheneraie. Die Herbergsverwalterin versucht, mir behilflich zu sein, ist aber selbst irritiert. Außer dieser Gîte namens „La grange de Béars“ und „Le monde allant Vers“ kenne sie keine andere. So nehme ich das Angebot an, dass ich in dieser Unterkunft bleiben kann. Um die andere Reservierung rückgängig zu machen, schaut sie in einem Pilgerführer nach und findet unter La Cheneraie einen Campingplatz. Nach einem kurzen Telefonat erklärt sie, dort wüsste man nichts von einer Reservierung.
Meine Verwirrung ist komplett.


[4.08.2023] Von Vers nach Cahors

Der Weg führt durch den Wald und dort überhole ich eine Gruppe langsam wandernder Seniorinnen. Ich folge den Markierungen, bis der Pfad eine Schleife vollführt. Später bin ich wieder an einem Punkt, an dem ich vor einer halben Stunde bereits vorbeigekommen bin. Nach einer Weile gelingt es mir, die richtigen Markierungen zu finden und den Wald zu verlassen. Der Weg führt am Flussufer entlang und dort hole ich die Seniorinnen wieder ein. Hier befindet sich auch ein großes Feld, auf dem Hanf angebaut wird. Ich witzele, hier könnte man etwas zum Rauchen ernten. Eine der Seniorinnen erklärt daraufhin, aber nur die Blüten. Aha, die Dame kennt sich offenbar aus!

Bald kann man zwischen mehreren Varianten wählen. Der GR36, das ist die Nummer des rot-weiß markierten Weges, führt auf zwei Varianten 6,5 km direkt am Fluss Lot entlang. 10,3 Kilometer hingegen sind es durch das Gebirge. Da ich mir auf der längsten Route den interessanteren Weg verspreche, wähle ich diesen. Zudem habe ich heute nur eine kurze Etappe vor mir und damit reichlich Zeit. Viele Kilometer zeigt sich dieser Weg ziemlich unspektakulär. Erst zum Schluss erreiche ich einen Aussichtspunkt. Cahors. Der Blick auf die recht große Stadt, die in einer Flussschlaufe liegt, ist schon sehr beeindruckend. Doch hätte ich mir vier Kilometer Wanderung auf einem eintönigen Pfad wirklich ersparen können. Hier hinauf, um die Aussicht zu genießen, wäre es nur ein kurzes Stück gewesen.
Nun fehlt nur noch der Abstieg.

Nach einem kurzen Gang durch die Stadt, bei der ich die Kathedrale besichtige und mir noch einen Stempel für den Pilgerpass besorge, erreiche ich schon die Herberge, die vom Namen her den Jakobinern gewidmet ist.


5.08.2023 - Mit dem Zug von Cahors nach Oloron zur Via Tolosana und dem Camino Aragonés

Heute schließe ich meine Wanderung auf der Via Podiensis ab. Diesen Schritt hatte ich schon eine Weile überlegt, da ich gehört hatte, dass die nächsten Etappen auf diesem Weg wenig Sehenswertes bringen würden. Zumeist flaches Land und überwiegend Landwirtschaft. Hauptsächlich hätte mich ein Ort interessiert: Condom. Wegen des Namens. Ich hätte ein Selfie am Ortsschild machen können, vielleicht sogar ein paar Präservative angehängt. Das hätte ein wirklich lustiges Foto werden können. Aber nur für dieses Foto weitere Etappen auf der Via Podiensis? So viel Aufwand ist mir der Spaß auch nicht wert. Zudem gibt es in Cahors einen Bahnhof und die seltene Gelegenheit, mit der Bahn in Richtung der Pyrenäen zu fahren.

Zuerst war mein Plan, nach Pau zu fahren, um auf die Via Tolosana zu wechseln. Doch dort hatte ich keine günstige Unterkunft für Pilger finden können. In Oloron, das sich einige Kilometer weiter befindet, gibt es eine Herberge. Leider fahren samstags die Züge seltener und ich würde erst kurz vor 20 Uhr ankommen. Ein kurzer Anruf in Oloron. Die späte Uhrzeit wäre noch okay und einen Platz gäbe es auch noch. Der ist gleich reserviert. Als Nächstes besorge ich mir ein Bahnticket.
Da es noch Vormittag ist, habe ich noch reichlich Zeit, um mich in Cahors umzusehen.

Der Zug nimmt eine sehr interessante Strecke und kurz nach Lourdes erkenne ich beim Blick aus dem Fenster eine Kathedrale. Lourdes ist ein sehr beliebter Wallfahrtsort. Es gibt auch einen eigenen Pilgerweg dorthin.
Lourdes ist sehr speziell, so wie Fatima in Portugal. Vielleicht ein Ziel für die Liste meiner zukünftigen Wanderungen.

In Pau habe ich einen längeren Aufenthalt für den Umstieg. Es gibt eine Bergbahn, die in den Ort hinauffährt. Die ich mir aber erspare. Ich laufe lieber. Pau ist eine recht attraktive Stadt mit unzähligen Cafés und Restaurants. Den Aufenthalt nutze ich zum Geld abheben und einkaufen, da die Pilgerherberge kein Abendessen anbietet. Dann wird die Zeit bereits knapp.
Wenig später sitze ich im Zug nach Oloron und erreiche die Unterkunft kurz, bevor die Türen verschlossen werden.


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