Via Tolosana / Camino Aragonés
Von Oloron bis Puente la Reina de Jaca
Ich wollte unbedingt noch einmal die Pyrenäen sehen und diesmal über den Somport-Pass wandern, einem etwas längeren Weg über das Gebirge. Vom ersten Jakobsweg, dem Camino Frances, kenne ich den als Napoleon-Route bekannten Pfad von St. Jean Pied de Port nach Roncesvalles. Gerade mal eine Etappe und man hat die Pyrenäen bereits hinter sich. Nun sind es ein paar Tage mehr. Ich habe die Via Podiensis verlassen, um mit dem Zug nach Oloron zu fahren. Via Tolosana heißt dieser Weg, der in Arles beginnt, über Toulouse führt und an der Landesgrenze bei Somport endet. Auf der spanischen Seite trägt der Jakobsweg den Namen Camino Aragonés und führt durch die Autonomieregion Aragon bis nach Puente la Reina, um sich mit dem Camino Francés zu vereinigen.
Morgens geht es entspannt los, ich verlasse die Herberge als letzter. Bei der Kirche Oloron-Sainte-Marie informiert mich ein Passant, dass ich in die umgekehrte Richtung gehen müsste, wenn ich zum Ort Sarrance wollte. Somit komme ich nochmal an dem Park vorbei, der gestern auf dem Weg zwischen dem Bahnhof und der Herberge lag. Dort sehe ich einen großen Gedenkstein zur Erinnerung an die verschleppten Bürger von Oloron aus der Zeit 1939-1945. Ganz in der Nähe gibt es auch eine Gedenkstätte „Campo de Gurs“ für die in der NS-Zeit in diesem Lager Inhaftierten. Mittlerweile 80 Jahre her, dennoch bedrückend, dass selbst dieser entlegene Ort damals so betroffen war.
Nach einem Markt vor einer Kirche, bei dem ich das französische Pilgerpärchen von gestern wiedertreffe, geht es steil bergauf. Bald folgt ein Abstieg und ich erreiche den Ort Goès.
Anschließend geht es durch einen dichten Wald über einen schlüpfrigen Pfad wieder aufwärts. Äußerst anstrengend! Hier muss einiges an Regen heruntergekommen sein. Der Weg ist sehr schlammig. Anfangs finde ich noch die rot-weißen Markierungen, doch bald keine einzige mehr. Wie geht es weiter? Es ist Zeit, die Handy-Navigation zu befragen. Doch die ist nicht sehr hilfreich. Ein paarmal laufe ich hin und her, ohne eine Markierung zu entdecken. Noch ein Versuch. Mein Ziel: Sarrance. Doch die Navigations-App will mich unbedingt zum Ort Goès zurückleiten. Jetzt verstehe ich gar nichts mehr! Da ich keinen Pilgerführer dabei habe, der für mich nur unnützes Gewicht bedeutet, suche ich mit dem Handy nach einer genaueren Etappenbeschreibung oder einer GPS-Karte. Alles würde jetzt helfen. Immerhin finde ich eine Liste der Orte zwischen den Etappen. Lacommande .. Goès .. Sainte-Marie/Kathedrale … - Moment, Goès?. Das liegt also in der umgekehrten Richtung, wenn man nach Pau läuft! Mir schwant Übles. Und das Üble bestätigt sich. Ich bin den ganzen Morgen in der falschen Richtung gelaufen!
Wieder zurück über Goès, nach Oloron und erneut durch den Park. Diesmal verlasse ich mich voll und ganz auf die Handy-Navigation. Auch wenn die mich die Schnellstraße entlang führt.
Nach einem Stück am Fluss entlang orientiere ich mich per Handy und ende in einer Sackgasse. Die Navigation sagt, es ginge weiter geradeaus. Das Schild vor mir sagt „Privat, Betreten verboten!“ Der Durchgang ist mit einer Kette versperrt. Ganz so einfach ist es mit dem Handy dann doch nicht. Wieder zurück, einen anderen Weg versuchen. Bald bin ich wieder auf der Schnellstraße.
Um einen Kreisel herum und weiter die Straße entlang. Ich komme an eine Épicerie, ein Lebensmittelgeschäft, das sogar am Sonntag geöffnet hat. Dort besorge ich mir zwei Bier und dazu Pfirsiche. Nachdem ich ein zweites Mal in Oloron gestartet war, habe ich die Belohnung dringend nötig.
Der Autolärm an der Schnellstraße strapaziert zunehmend meine Nerven, so schaue ich, ob ich irgendwie auf die Via Tolosana zurückgelangen könnte, ohne nochmal nach Oloron zurückzulaufen. Die Ortsliste zu den Etappen ist dabei sehr hilfreich. Saint Christau heißt der nächstliegende Ort auf dem Weg. Der Navigations-App zufolge könnte ich kurz hinter Arros abbiegen. Hoffentlich ist das nicht wieder eine Sackgasse. Wie erleichtert bin ich, als ich endlich wieder die weiß-roten Markierungen sehe! Und vor mir sehe ich bereits das Gebirge, das sich in leuchtendem Grün vor mir erhebt. Heute war es zwar ein furchtbarer Start, aber dieser wunderbare Blick auf die Pyrenäen entschädigt mich wirklich für alles!
Die meiste Zeit bin ich jetzt auf einem idyllischen Wanderweg, der durch eine Schlucht führt und durch ein kurzes Stück entlang der Schnellstraße unterbrochen wird. Wenig später bin ich am Ziel.
Sarrance ist ein Ort wie aus dem Bilderbuch. Im Hintergrund erheben sich Berge und das Zentrum der kleinen Gemeinde ist ein Kloster, in dem sich die Pilgerherberge befindet. Der Gemeinschaftsraum wirkt wie ein Festsaal, in dem Ritter einst ihre Orgien feierten. Da der erste Schlafsaal schon voll belegt ist, bekomme ich ein Bett in einem zusätzlichen Schlafraum, in dem insgesamt sieben Betten stehen. Die Herbergsverwalterin meint, ich hätte diesen Raum für mich allein. Wie im Märchen. Fehlt nur noch Schneewittchen.
Beim gemeinsamen Abendessen sehe ich nur den Spanier vom Vortag aus Oloron wieder, dafür ist die Zusammensetzung diesmal wirklich international. Einer kommt aus Thailand und eine Pilgerin stammt aus Taiwan. Vom leichten Akzent abgesehen, spricht sie fließend Französisch. Sie wandert gemeinsam mit einer Französin, einer Studienkollegin aus dem Elsass. Beim Essen erwähnt die Herbergsverwalterin noch einen italienischen Pilger, der sich verspäten würde, da er sich unterwegs verirrt hätte. Als das Mahl beendet ist, meint sie, er wird wohl nicht mehr auftauchen.
Anschließend findet noch ein Gottesdienst in der Klosterkirche statt. Daran nehme auch ich Teil. Nicht unbedingt aus religiösen Gründen, es gibt in diesem Dorf eben wenig, was man sonst unternehmen könnte.
Aus Mangel an Sprachkenntnissen halte ich mich bei Gebet und Gesang zurück. Bekreuzigen oder auf die Knie fallen tue ich auch nicht. Nach dem Schlussgebet stehen einige auf, begeben sich nach vorne und stellen sich in eine Schlange. Neugierig verfolge ich das Ritual. Die Besucher gehen hinter den Altar, verharren eine Weile vor einer Marienstatue, fallen auf die Knie oder verbeugen sich, um danach von einem der Mönche eine Oblate entgegenzunehmen und sich dabei abermals zu verbeugen oder zu bekreuzigen. Mir stellt sich die Frage: soll ich an diesem Ritual teilnehmen? Darf ich das überhaupt, als nicht-Katholik? Als sich die letzte Kirchenbesucherin ebenso in die Schlange einreiht, denke ich: warum nicht? Die insgesamt sechs Mönche haben einen schönen Gottesdienst mit Gebet und Gesang abgehalten. Auch wenn ihre Sitten und Gebräuche mir fremd erscheinen, will ich nicht negativ auffallen.
Um 22 Uhr taucht dann doch noch das Schneewittchen auf - in Form des verirrten italienischen Pilgers. Der nur Italienisch versteht. In seiner Sprache kenne ich nur einzelne Worte und nach einem vergeblichen Versuch, mich mit ihm zu verständigen, gebe ich es auf.
Buona notte!
Von Sarrance führt der Weg durch ein wahres Naturparadies. Beim Anblick der grünen Landschaft mit einer wunderbaren Bergkulisse bestätigt sich, dass es die richtige Entscheidung war, hierherzukommen. Nach einer Schlucht öffnet sich vor mir eine grüne Ebene mit einem kleinen Dorf in ihrer Mitte. Greifvögel ziehen über mir ihre Runden. Hier sehe ich einen Bussard, dort einen Roten Milan. Und noch größere Vögel. Es ist beeindruckend, wenn ihre Schatten auf mich fallen. Sind es Adler?
Bei einer Pause in Osse treffe ich die Französin und die Pilgerin aus Taiwan wieder. Wir verabreden uns zu einem Kaffee, Bier und Quiche Lorraine. Sie nehmen sich Zeit und wollen nur kurze Etappen wandern. Da sie länger in dem Ort verweilen, verabschiede ich mich, da es an der Zeit ist, nach Borce weiterzuwandern. Es sind noch 10 Kilometer und ich will noch einigermaßen früh ankommen. Ich habe noch keinen Platz für die Nacht reserviert.
Nachdem ich Osse verlassen habe, finde ich mich zwischen Bergen wieder und durchquere malerische Dörfer. Es ist so, wie ich es mir erträumt habe. Man muss sich nur die Abschnitte wegdenken, die an der Schnellstraße entlang führen. Dann ist es wirklich schön. Mein Ziel ist die private Herberge in Borce, dort gibt es auch Abendessen im Angebot. Als ich dort ankomme, sehe ich ein Schild „Heute geschlossen“. In Borce gibt es auch eine kommunale Pilgerherberge, jedoch ohne Abendessen und für Selbstversorger. Zum Selbstversorgen gibt es die Épicerie im Ort. Die befindet sich bei der privaten Herberge, die heute geschlossen ist.
Kurz entschlossen gehe ich zum nächsten Ort Etsaut. Der befindet sich direkt gegenüber und dort gibt es auch Abendessen. Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten ebenso, während Borce wirklich nur ein Ort zum Angucken ist. Zumindest montags.
Abends komme ich mit einer älteren Frau ins Gespräch, die aus Israel kommt und erzählt, den Weg hätte sie sich als Abenteuer vorgenommen. Sie ist mit dem Zelt unterwegs. In Europa hätte sie die reinste Wildnis erwartet, war aber überrascht, dass es hier Schlafplätze gibt und die Wege gut markiert sind. Sie zieht ein Buch hervor, in dem Wanderrouten eingezeichnet sind und erklärt, sie wollte nicht den Jakobsweg gehen, sondern in westlicher Richtung durch die Pyrenäen.
Nach dem Abendessen werden wir ins Büro der Unterkunft geführt. Vor mir ist die Dame aus Israel an der Reihe und zeigt auf Pokale, die auf einem Dokumentenschrank aufgestellt sind. Auf die Frage, wer all diese gewonnen hätte, antwortet die Inhaberin schlicht: Der Esel.
Während sich der Bezahlvorgang hinzieht, schaue ich mich im Büro um. Auf dem Schrank hinter der Kasse steht mindestens ein Dutzend Pokale. Ein großes Regal auf der rechten Seite ist bis zum Rand vollgestellt. Mindestens fünfzig Pokale stehen darauf. Wo sich ein Platz dafür gefunden hat, stehen noch weitere Trophäen.
Als ich mit dem Bezahlen der Unterkunft an die Reihe komme, frage ich neugierig: all die Pokale hat ein einzelner Esel gewonnen? Sie nickt und antwortet: Ja, die hat der Esel gewonnen.
Am Ortsende von Etsaut folge ich wie gewohnt den rot-weißen Markierungen. Heute ist es einfach, ihnen zu folgen. Zudem sind an diesem Morgen viele Rucksackträger unterwegs. Bald biegt der Weg, der als „Chemin de la Mâture“ ausgeschildert ist, links ab und wird zu einem schmalen Pfad, der zur rechten Seite steil abfällt. Der Blick hinab in die Schlucht wird immer schwindelerregender. Dieser Pfad, der an einer Felskante entlang führt, wurde eindeutig künstlich angelegt. Vermutlich in die Felswand gesprengt.
Unterwegs hole ich die Israelin vom Vorabend ein, die mit verwundertem Blick meint, sie dachte, ich wollte doch durch die Ortschaften wandern. Ja, den Jakobsweg, bestätige ich ihr. Da sie eine längere Pause einlegt, gehe ich weiter.
Den nächsten Ort Urdos müsste ich bald erreichen. Zwei Tage zuvor hatten zwei Pilger mir empfohlen, bereits von Sarrance aus weiter bis nach Urdos zu gehen, dann hätte man den ersten Anstieg schon hinter sich. Doch nach der langen Mittagspause am Vortag hatte ich die Etappe abgekürzt und die verbleibenden 5 Kilometer bis Urdos auf heute verlegt. Es ist eine mit knapp 20 Kilometern sehr entspannte Etappe bis nach Somport. Somport liegt zudem noch in Frankreich und so könnte ich kurz vor der Grenze meine Postkarten einwerfen, die ich bereits mit französischen Briefmarken beklebt hatte.
Eigentlich müsste ich die fünf Kilometer längst hinter mir haben, denke ich nach einer Weile, doch von diesem mysteriösen Ort Urdos ist weit und breit immer noch nichts zu sehen. Als ich durch einen dichten Wald wandere, schwant mir etwas. Und mir kommt der seltsame Kommentar der Israelin wieder ins Gedächtnis. Bin ich schon wieder falsch gelaufen? Abermals konsultiere ich die Navigations-App auf meinem Handy. Der Weg nach Urdos wäre … den ganzen Aufstieg wieder hinab! Ich fluche. Bei dem Gedanken, den ganzen Weg wieder zurückzulaufen, sträuben sich mir die Nackenhaare. Ich würde mich blamieren, wenn ich all den Leuten begegne, an denen ich unterwegs vorbeigelaufen bin. Die Israelin würde mich wohl auslachen. Ich entscheide mich für den simpelsten Plan. Denn der Tag ist noch jung. Irgendwo wird es wohl eine Abzweigung geben, die zum Somport-Pass führt. Also weiter.
Ich erreiche ein Gatter, an dem steht, bei dem freundlichen Mann der Schäferhütte könnte man seine Wasservorräte auffüllen, da es auf dem Weg keine andere Gelegenheit dafür gäbe. Bald verlasse ich den Wald, es folgt ein Aufstieg und die Vegetation wird karger. Tatsächlich, eine Hütte! Und davor ein Brunnen. Dort fülle ich meine beiden Halb-Liter-Flaschen auf. Unterwegs hatte ich, um Gewicht zu sparen, meine Vorratsflaschen reduziert, da in fast jedem Ort ein Brunnen zu finden war. Hier gibt es offenbar keinen weiteren. Hoffentlich wird mir die Entscheidung zum Gewichtsparen nicht irgendwann zum Verhängnis.
Als ich den Schäfer mit Dreadlocks inmitten seiner Herde entdecke, scheint mir dieser sehr jung zu sein. Vielleicht ein Aussteiger, der von der Zivilisation die Nase voll hatte. Dieser abgelegene Ort ist perfekt geeignet, wenn man sich von der Gesellschaft losgesagt hat und eine Art Robinson-Leben führen will. Als ich an der Herde vorbeilaufe, sehe ich in einiger Entfernung einige Wanderer aus der Gegenrichtung, die von zwei Hunden mit lautem Gebell in Schach gehalten werden. Zwei Meter vor mir döst ein riesiger weißer Hund in der Sonne. Ich schleiche mich an ihm vorbei, plötzlich wacht er auf, bellt wie verrückt und läuft noch eine Weile hinter mir her.
Die Schäferhütte ist zu einem kleinen Punkt in der Ferne geschrumpft. Ich finde mich in einer Ebene wieder. Rundum nur Gestein und Moos. Vor mir erheben sich Felswände. Wo geht es weiter? In der Höhe sehe ich einen einsamen Wanderer. Okay, es geht noch weiter hinauf. Damit verglüht mein letzter Funken Hoffnung, dass sich der Somport-Pass in der Nähe befinden würde. Da seit einer Weile kein Mobilfunk-Netz mehr verfügbar ist, hilft mir die Handy-Navigation jetzt auch nicht weiter.
Plötzlich fällt ein großer Schatten auf mich. Ich blicke zum Himmel und sehe einen Raubvogel. Auf den zweiten Blick fallen mir noch mehrere von ihnen auf, die am Himmel kreisen. Von welcher Art sind sie? Bussard? Milan? Sie wirken deutlich größer. Adler vielleicht? Als ich weiter hinauf wandere, sehe ich einige von diesen Vögeln auf den Felsen sitzen. Nun erkenne ich sie genauer. Kahler Kopf und Halskrause. Die erinnert mich an die klassische spanische Kleidermode, wie sie beispielsweise auf einem Gemälde von Miguel de Cervantes dargestellt wird. Zugleich erinnern sie an die Comics von Lucky Luke. Wie sie dort oben lauern, befürchte ich, haben sie schon auf mich gewartet.
Zweimal hatte ich bisher eine Flugshow besucht, bei denen Raubvögel von Eulen bis Adlern vorgestellt wurden. Wenn der Geier über die Zuschauer flog, hatte dies stets für entsetzte Schreie gesorgt. Ein Geier ist wirklich groß. Jetzt fliegen immer mehr dieser riesigen Vögel über mich hinweg. Ist es so weit? Ist das mein Ende?
Plötzlich höre ich ein wildes Gekreische. Nach einer Rechtskurve sehe ich eine ganze Horde von Geiern, die sich um etwas tummeln. Als ich näherkomme, erkenne ich mehr. Dort liegt ein Pferdekadaver, um den sich die wilde Horde von Geiern streitet.
Einerseits ist es ein wirklich besonderes Erlebnis, diese riesigen Vögel in freier Natur zu erleben. Andererseits ist mir ihre Gegenwart nicht ganz geheuer. So gehe ich lieber weiter.
Endlich habe ich den höchsten Punkt erreicht, die rot-weißen Markierungen führen wieder abwärts. Die Aussicht ist atemberaubend. Unter mir liegt ein tiefblauer See und dahinter thronen mächtige Bergriesen aus schroffem grauen Gestein. Beim Abstieg schallt beständiges Glockenläuten zu mir herauf. Bald erkenne ich, woher es stammt. Am See tummeln sich Kuhherden und einige Pferde, die ebenso Glocken um den Hals tragen. Ein Naturidyll mit weitläufigen grünen Wiesen und einem klaren blauen See. Bei dem Anblick freue ich mich darüber, dass ich mich verlaufen habe. Etwas oberhalb des Sees gibt es eine Hütte, die sich „Refuge d'Ayous“ nennt. Ich bin überrascht, was hier alles angeboten wird. Belegtes Brot, Omelett und sogar kühles Bier. Davon besorge ich mir zwei und genieße sie beim Anblick auf diese einmalige Landschaft. Anschließend gehe ich zum See hinab. Ich muss unbedingt ein Bad nehmen. Das Wasser des hoch gelegenen Bergsees ist nicht einmal kalt.
Nach einer längeren Pause begebe ich mich auf den weiteren Abstieg und finde auf einem Wegweiser etwas, das mein Herz leichter schlagen lässt. Eine Muschel. Das Symbol des Jakobsweges! Und es führt zu einem Ort namens Gabas, der knapp 5 Kilometer entfernt liegt. Kurzentschlossen folge ich dem Wegweiser. Er wird mich zurück auf den Jakobsweg führen und die Wahrscheinlichkeit, eine Pilgerherberge zu finden, ist beim Muschelweg deutlich höher als hier in der Wildnis. Als ich hinabgehe, an einem Stausee vorbei und ich endlich Gabas erreicht habe, ist es bereits Abend. Nach einigem Hin- und Herlaufen von Ortsende bis Ortsende finde ich zum Glück noch einen Übernachtungsplatz in einer Herberge.
Als ich die Herberge verlassen habe, schaue ich mich um, wie ich zum Somport-Pass gelange. Auf dem Plan einer Bushaltestelle wird die Fahrt hinauf zu dem Stausee angeboten, von dem ich gestern abgestiegen bin. In die umgekehrte Richtung zu gehen, passt gar nicht, wie ich über Google Maps erkenne. Genaugenommen befinde ich mich an einem völlig falschen Ort, was die Via Tolosana betrifft, sagt mir die Handynavigation. Um nach Somport zu gelangen, müsste ich die gesamte Tour von gestern zurücklaufen. Wenn ich später von dieser Wanderung erzähle, werden sich manche wundern, wieso ich für die Distanz zwischen zwei Orten, die gerade einmal 5 Kilometer auseinanderliegen, ganze zwei Tage gebraucht habe.
Als ich wieder an einem Wegweiser vorbeikomme, sehe ich etwas Überraschendes. Chemin d'Ossau, der Weg mit der Muschel weist nach Col du Somport. Nur 17 Kilometer. Google Maps kennt diesen Weg offenbar nicht.
An der Abzweigung oben wurde nicht erwähnt, dass man in die andere Richtung nach Somport gelangt. Jetzt bin ich schlauer. Da ein Bus erst 4 Stunden später hinauffahren würde, kann ich auch laufen, lasse den Stausee bald hinter mir und sehe den Wegweiser des Chemin d'Ossau.
Diesmal nehme ich die andere Abzweigung und gelange in eine weite grüne Ebene. Die perfekte Kulisse für einen Winnetou-Film, denke ich. Ein wunderbarer Nationalpark, in dem Herden von Pferden und Kühen umherstreifen. Da kommt mir in den Sinn, Winnetou wurde vor nicht allzu langer Zeit doch verboten, zensiert oder so was Ähnliches. Wegen „kultureller Aneignung“ - was auch immer das bedeuten soll. Also doch keine Kulisse für einen Indianerfilm! Dennoch wunderschön.
Wie so oft, wenn ich denke, nach der nächsten Bergkuppe wäre ich endlich oben, geht es weiter aufwärts. Weiter und noch mal weiter hinauf.
In so einer abgelegenen Gegend ist es üblich, jeden zu begrüßen, dem man begegnet. Statt „Bonjour“ höre ich immer öfter das „¡Hola!“ oder „¡Buen día!“. Es sind offenbar mehr Spanier hier unterwegs als Franzosen.
Plötzlich hörte ich „Bonjour!“ und nochmal lauterer „BONJOUR!“. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und blicke auf. Da sehe ich ein Pärchen, das mir bekannt vorkommt. Die beiden waren auch in der Pilgerherberge von Gabas. Sie sind bereits auf dem Rückweg. Sie sind offenbar sehr früh gestartet, denke ich und erfahre, ich wäre bald oben an dem See, der zuvor ausgeschildert war. Eine frohe Botschaft, denn meine spartanischen Trinkwasservorräte von einem Liter sind nahezu erschöpft. Wenig später kann ich meine zwei Halbliter-Flaschen auffüllen. Das Wasser in diesem See ist vorzüglich.
Danach folgt eine Abzweigung zu den Lacs d'Ayous, die ein Umweg wäre. Nach einem kurzen Aufstieg erreiche ich endlich den höchsten Punkt. Ich bin überrascht, dass hier spanische Familien mit Kleinkindern unterwegs sind. Auch mit welchen, die nicht einmal selbst laufen können. Wie haben die es hier hinauf geschafft? Etwas weiter gelange ich an einen weiteren See, dort sind Familien mit Eseln unterwegs, die schwere Packtaschen tragen. Mit den Eseln wird vermutlich auch das Bier zu dem abgelegenen Refuge transportiert.
Nur ein Stück weiter bietet sich mir ein Blick in das nächste Tal. Unten liegt eine Ortschaft. Vielleicht Somport. Von dort fährt ein Sessellift herauf. So also sind die alle mit ihren Säuglingen hinaufgekommen.
Der Weg führt steil über Serpentinen hinab. Manchmal überhole ich jemand beim Abstieg, manchmal werde ich selbst überholt. Zwei Männer joggen an mir vorbei. Ich hoffe, sie brechen sich nichts.
Kurz vor dem Ort komme ich an ein großes Wasserbecken, an dem ein Schild sagt „TOMA - Agua Potable“. Ein Gebirgsbach füllt das Bassin beständig mit frischem Nass. Die Stadt unten wird wahrscheinlich mit diesem klaren, frischen Gebirgswasser versorgt. Ich leere den letzten Rest meines Wassers, das an diesem wolkenfreien und heißen Tag zu warm geworden ist und fülle meine Flaschen wieder auf. Andere sind auf die gleiche Idee gekommen und frischen ihre Trinkvorräte ebenso auf. Als ich etwas länger verweile, sehe ich einen Mann, der auf den Beckenrand steigt. Ich kann kaum glauben, was ich sehe! Er lässt seine Hose herunter und pinkelt mit weitem Bogen in das Bassin. Hemmungslos! Absolut unverschämt!
Nach diesem unappetitlichen Ereignis erreiche ich schon die Siedlung, von der ein Sessellift in die Höhe fährt, und die zu anderen Jahreszeiten ein Skiort sein muss. Alles ist in Spanisch geschrieben. Geschäfte, Speisekarten und ein Supermarkt, der gerade geschlossen ist. Bei einem Bier in einem Restaurant befrage ich meine Handy-Navigation, wie ich nach Somport gelangen kann. Sie sagt, ich müsste ein Stück rückwärts laufen. Demnach habe ich den Pass bereits hinter mir und befinde mich schon in Spanien. Was mache ich mit den bereits frankierten Postkarten mit Grüßen aus Frankreich? - Egal, die kann ich vielleicht bei einem Stopp auf der Rückfahrt von der Tour noch irgendwo einwerfen.
Nicht weit von diesem Ort entfernt gibt es eine Herberge. Nach Somport brauche ich nicht mehr zu laufen, denn bei Candanchú befindet sich eine große Unterkunft, die auch ein Restaurant beinhaltet und direkt an der Landesgrenze liegt. Ich bekomme dort einen Platz. Da sie sich abseits jeder Ortschaft befindet - Candanchú liegt erst einige Kilometer weiter - melde ich mich auch für ein Abendessen an.
Die Bedienung ist sich unschlüssig, ob sie mich an einen Einzeltisch setzen soll, oder nicht. Ich erkläre, dass ich nicht gerne alleine sitzen würde. Wenig später finde ich mich bei einer spanischen Wandergruppe wieder. Nach einer kurzen Vorstellung, woher und wohin, spricht mich eine Spanierin in Deutsch an. Ich erfahre, sie würden einem Pyrenäen-Wanderweg folgen, der von hier aus nach Nordwesten führt, danach über Höhenwege nach Osten und anschließend wieder in Richtung Süden. Als sie mich fragt, welchen Weg ich denn gehen würde, überlege ich, wie ich ihr meine Wanderung der letzten zwei Tage erklären könnte. Das wird mir dann doch zu kompliziert und antworte einfach, dass ich den Jakobsweg gehen würde.
Die spanische Gruppe ist bisher nur zu sechst, einer fehlt. Der ist bei einem Arzt, da er unterwegs verunglückt wäre, erfahre ich. Einer wäre gestürzt und in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Etwas verspätet erscheint der siebte aus der Gruppe mit einer Armbinde. Nachdem er Platz genommen hat, lacht er laut und hält immer wieder seinen linken Arm in die Höhe. Ich höre „Doctor“ und dann lacht er abermals. Auf die Frage, ob er mit dieser Verletzung die Tour nicht lieber abbrechen wolle, verfällt er in schallendes Gelächter. Es ist etwas schade, dass ich mittlerweile überfordert bin, der angeregten Konversation in Spanisch mangels Sprachkenntnissen zu folgen.
Dennoch ist es ein kurzweiliger Abend.
Morgens sammle ich im Garten der Herberge meine Wäsche auf, die unter der Leine verstreut liegt. Es war eine geniale Idee, Wäscheklammern auf diese Wanderung mitzunehmen. Weniger schlau, sie nicht zu benutzen. Gestern war es fast windstill und da fand ich es unnötig.
Trotz Umweg bin ich doch sehr weit vorangekommen und würde es heute wohl bis Jaca schaffen. Einige Etappenlisten zum Camino Aragonés empfehlen Somport bis Jaca als erste Etappe. Ein Stück davon habe ich bereits hinter mir.
Bald habe ich Canfranc Estation erreicht. Es ist ein seltsamer Ort mit einem noch seltsamerem Bahnhof. Vor dem Gebäude lese ich, dies wäre weltweit einer der größten Bahnhöfe. Doch hier fährt nicht ein einziger Zug. Das Bahnhofsgebäude ist heute ein Luxushotel. Eine Frage, die mich schon länger beschäftigt: wie komme ich von Canfranc Estation zum Ort Canfranc? Die Navigation von Google Maps berechnet beständig einen Weg von insgesamt 130 Kilometer zu Fuß. Plan B wäre die Bahn gewesen. Der hat sich bereits erledigt. Vielleicht gibt es als Verbindung nur einen Autobahntunnel. Somit wäre Plan C, per Anhalter zu fahren. Für Autos scheint es laut Handynavigation eine Verbindung zu geben.
Als ich das Ortsende von Canfranc Estation erreiche, sehe ich ein tolles Angebot bei einer spanischen Bar. Tortilla! Und es gibt hier frisch gezapftes Bier! Entgegen meinem eisernen Grundprinzip „Vormittags kein Bier“, bestelle ich mir eines und wenig später steht ein großes, eisgekühltes Mahou nebst einem großzügigen Stück Tortilla und einem mit Tomate überbackenen Stück Baguette vor meiner Nase. Welch ein Festmahl! Die letzte Mahlzeit, die ich einnehme, bevor ich durch den Eisenbahn- oder Autobahntunnel laufen muss.
Als ich nach der leckeren Henkersmahlzeit an einem Tourismus-Büro vorbeikomme, gehe ich spontan hinein. Vielleicht kann mir hier jemand erklären, wie ich von Canfranc Estation nach Canfranc komme. Der Mann hinter dem Tresen zieht einen Plan hervor und erklärt, ich müsse einfach bis zum Ortsende laufen und anschließend ein Stück an der Straße entlanggehen. Ursprünglich gab es eine Brücke für Fußgänger, aber die wäre eingestürzt. Kurz lacht er auf, spricht dann mit ruhiger Stimme weiter und sagt, es gäbe noch eine andere Möglichkeit, den Fluss zu überqueren. Die wäre nur etwas unwegsam. Ich packe den Plan ein und wandere los. Was werde ich am Ortsende wohl finden? Muss ich über einen Fluss schwimmen?
Die ganze Aufregung war umsonst. Ich sehe die Stelle, an der eine Planke auf ein paar Felsen in einem Bach gelegt ist. Bei der Brücke daneben fehlt ein Stück. Google Maps kennt diesen Alternativweg nicht.
Immer wieder waren mir unterwegs Bunker aufgefallen. Hier wird einer sogar als „Refugio“ ausgewiesen. Ich werfe einen Blick hinein und denke, nur bei größter Not würde ich hier übernachten. Selbst dann aber nicht ohne Isomatte.
Der Wanderweg wird etwas speziell und ist von Straßen überbaut, sodass ich durch einen niedrigen Gang unter einer Autobahn hindurchkriechen muss.
Genauso speziell ist die nächste Besonderheit. Es ist der erste von insgesamt drei außergewöhnlichen Orten, die ich mir für den Camino Aragonés vorgenommen habe und unbedingt sehen wollte. Alles andere ist unwichtig.
Nun stehe ich direkt davor! Vorher war es an diesem wolkenfreien Tag fast heiß, irgendetwas zwischen 25 und 30 Grad, jetzt atme und fühle ich eisige Luft, die aus einer Höhle herauszieht. Der Ort ist magisch. Die Hexenhöhle! Ich bekomme Gänsehaut, da der Luftzug, der mir entgegenkommt, gefühlt um die 0 Grad kalt ist. Die Höhle ist durch ein Gitter versperrt und ich lese, es werden Führungen angeboten. Leider erst wieder am Nachmittag.
Bis Jaca und wieder hierher zurück zu laufen, ergibt wegen der Distanz keinen Sinn. Die Cueva de las Güixas will ich unbedingt noch sehen. Ich schaue mich im nächsten Ort Villanúa nach Übernachtungsmöglichkeiten im Ort um. Ein Schild weist zu einer Herberge, aber vor Ort erfahre ich, sie wäre schon seit 3 Jahren geschlossen. Die nächste, ein Hostal, kostet 60 Euro pro Nacht. Zu teuer. Am Ortsende von Villanúa finde ich noch eine Herberge. Nach einem längeren Blick in ihre Liste erklärt die Inhaberin, es wäre noch ein Platz übrig. Es ist ein Schlafraum mit 6 Betten, den ich alleine belege.
Bei der Frage nach der Cueva de las Güixas erklärt sie, man könnte den Besuch online buchen und konsultiert ihr Handy. Heute wäre bereits alles ausgebucht, der nächste Besuch wäre erst morgen zur Mittagszeit möglich. Wenn ich Schwierigkeiten beim Buchen hätte, würde sie mir helfen. Ich erkläre, dass ich es beim Tourismus-Büro versuchen würde, frage wenig später dort nach und erfahre, man würde keine Eintrittskarten verkaufen. Die Besichtigung könnte man nur online buchen.
Als ich danach in den Park gegenüber gehe, treffe ich einen mir bekannten spanischen Pilger wieder. Der erzählt, er hätte diese Hexenhöhle gesehen und sie wäre wirklich spannend. Während der Unterhaltung unternehme ich einen Versuch, einen Termin zu buchen. Es stellt sich als äußerst kompliziert heraus, daher reiche ich ihm mein Handy. Nach einigen Eingaben wird die Bezahlung des Eintritts mit Kreditkarte gefordert. Kreditkarte? Habe ich nicht. Verschämt frage ich ihn, ob er mir den Gefallen tun würde, den Eintritt für mich zu buchen. Die 9 Euro dafür gebe ich ihm in bar. Vielleicht ist es eines der besonderen Schicksale des Jakobsweges, den spanischen Pilger gerade hier zu treffen. Jedenfalls habe ich nun für den morgigen Mittag einen Termin für den Besuch der Cueva de las Güixas.
Bevor wir uns voneinander verabschieden, erzählt er mir, er würde morgen nicht wandern, sondern eine Klettertour auf einen der Gipfel der Pyrenäen unternehmen. Ich gerate bei der Erinnerung ans Klettern ins Schwärmen. In meinem jetzigen Zustand wäre es aber kaum möglich. Die letzten Tage war ich mit Sandalen unterwegs. Zwar bin ich noch gut zu Fuß, aber die Wanderung der letzten Tage hat meinen Füßen stark zugesetzt.
Es ist so weit. Es geht hinein. In die Hexenhöhle. Der Führer - okay, der Guide - beginnt unspektakulär mit der Unterscheidung von Stalaktiten und Stalagmiten. Dann geht es tiefer in die Grotte hinein. Durch einen Schacht fällt Licht von oben herein und der Guide erzählt, man könnte nachts an dieser Stelle eine heilsame Dusche von Mondlicht nehmen. Im späten Mittelalter bis zur frühen Neuzeit versammelte sich in der Cueva de las Güixas ein Hexenzirkel, der im Schein des Mondlichts magische Rituale vollführte, mit denen alle Krankheiten und körperlichen Gebrechen geheilt wurden. Der Jungbrunnen. Die Legende wurde damals zunehmend populärer. Bald erkundeten Abenteurer sogar die hintersten Winkel der Neuen Welt auf der Suche nach dem wundersamen Brunnen, der jeden wieder jung, gesund und schön machen würde, wenn er ein Bad darin nimmt.
Diese Informationen hatte ich zuvor an anderer Stelle gelesen, da ich Mühe habe, zu verstehen, was der Guide in Spanisch über diese Grotte erzählt. Der uns nun steil hinauf und noch tiefer in die Höhle führt, bis er vor einem abgesperrten Bereich innehält. Schwarze Schatten fliegen über unsere Köpfe hinweg. Zum Schutz der hier lebenden Fledermäuse dürfen wir nicht weiter und er führt uns wieder auf den Weg zurück zum Ausgang.
Was diese Cueva de las Güixas so besonders macht: hier wurden einst tatsächlich Hexenrituale praktiziert. Es ist der einzige - mir bekannte - Ort auf der Welt, für den diese Praktiken wirklich historisch belegt sind!
Die Mittagszeit ist bereits vorbei, als die Führung endet. Der früheste Termin begann erst um halb Zwölf. Vielen Dank an Daniel, den spanischen Pilgerkollegen, der mir die Besichtigung des ersten der 3 großen Highlights ermöglicht hat!
Die heutige Etappe starte ich spät. Doch das macht nichts, von Villanúa nach Jaca ist es nur ein Hasensprung.
Nachdem ich meinen Rucksack bei der Rezeption der Unterkunft abgeholt habe, geht es weiter in Richtung Castiello de Jaca. Diese Burg liegt auf halbem Weg und ist ein weiteres Highlight. Unterwegs erwähnen Hinweisschilder eine Ruta del Santo Grial. Den Weg des heiligen Grals! In einem Stein am Wegrand steckt ein Schwert. Vielleicht ist es das legendäre Excalibur. Nur komme ich nicht auf den Stein hinauf, um es herauszuziehen.
Es wird immer spannender - und bei wolkenfreiem Himmel zunehmend heißer.
Endlich erreiche ich Castiello de Jaca und erwarte eine mächtige Festungsanlage. Oder Ritterturniere und Jungfrauen auf einer Tribüne, die dem Helden ihrer Wahl ein Taschentuch herabwerfen (BHs gab es im Mittelalter nicht, daher mussten sich die stolzen Ritter mit Schnupftüchern begnügen).
Als ich durch den Ort laufe, finde ich nicht das, was ich von Fotos kenne. Weder die beeindruckende Festungsanlage von Jaca, noch eine Burg. Nicht mal ein Turm ist zu finden. Eine Kirche befindet sich in diesem verschlafenen Dorf. Aber sonst? Nichts. Bis auf ein paar alte Gebäude.
Später in Jaca finde ich das, was ich von Bildern bereits kenne. Die Festung. Eine fünfzackige Wehranlage mit einem tiefen Burggraben und einer Brücke, die zu einem reichlich verzierten Eingangsportal führt. Dies nennt sich Ciudadela de Jaca. Nicht zu verwechseln mit dem Dorf namens Castiello de Jaca.
Zahlreiche Hirsche tummeln sich im Burggraben. Es ist spannend, sie zu beobachten. Eine ganze Herde, die sich im Schatten aufhält.
In einem Museumsshop suche ich nach Postkarten von der Zitadelle. Nachdem ich am Vortag keine von der Cueva de las Güixas finden konnte, wollte ich wenigstens eine von diesem Castiello de Jaca besorgen. Jaca ist eine größere Stadt, aber egal, wo ich es versuche, weder im Touristenbüro, noch in irgendeinem Souvenirladen ist auch nur eine einzige Postkarte von dieser Zitadelle zu finden.
Abends sind die Straßen von feiernden Menschen überfüllt. Um 22 Uhr schließt die Pilgerherberge. Nachts höre ich laute Musik und wildes Geschrei, das bis zur Morgenstunde anhält.
Von Jaca hatte ich etwas anderes erwartet. Einen mittelalterlichen Ort in den hohen Pyrenäen mit einer prächtigen Burg. Die Zitadelle war zwar sehenswert, besonders die Hirsche. Auch die Kathedrale war ein Blickfang. Aber ich hatte mir etwas anderes vorgestellt. Keine überfüllte Innenstadt mit zahllosen Touristen und preislich überhöhten Restaurants. Mit voll besetzten Tischen auf der Straße, bei denen eine einzelne Bedienung für 50 Leute zuständig ist. Etwas Gemütlicheres eben.
Das dritte Highlight des Camino Aragonés befindet sich auf der heutigen Etappe. Genaugenommen ist es ein weiter Umweg. Bei der Anmeldung am Vortag hatte ich die etwas brummige Herbergsverwalterin nach dem Weg zum Kloster San Juan de la Peña gefragt. Nun, sie war trotz meiner mangelnden Sprachkenntnisse konsequent bei ihrem Spanisch geblieben. Im Prinzip hatte ich alles verstanden, was sie mir erklärt hatte und alle Fragen hatte sie mir auch geduldig beantwortet. Eigentlich gut, dass sie sich wie eine gestrenge Pädagogin verhalten hatte, statt wie andere ins Englische oder Deutsche zu wechseln, da ich vorhatte, die spanische Sprache zu lernen. Trotzdem wirkte sie etwas brummig.
Mit dem Plan in der Hand, den ich von ihr erhalten hatte, suche ich die Abzweigung zum Felsenkloster San Juan de la Peña. Es gibt auf dem Plan (eine Kopie eines handgemalten Zettels) mehrere Möglichkeiten. Da ich die Variante Nummer 1 nicht gefunden habe, wähle ich Variante 2, die über die Straße aufwärts bis zum Ort Atarés führt. Diese war nicht zu verfehlen. Nach etwas Umherirren finde ich auch einen Wegweiser, der eine „Ruta del Grial“ nach San Juan de la Peña ausweist. Im Höhlenkloster soll sich einst der Heilige Gral aus der Artus-Legende befunden haben.
Anfangs ist es ein Schotterweg, aber später geht es durch einen Sumpf. Nur an dem niedergetrampelten Schilf erkenne ich, dass ich mich noch auf dem richtigen Pfad befinde. Bald geht es aufwärts, der Weg verläuft über ein ausgetrocknetes Bachbett hinauf und wird immer furchtbarer. Markierungen sind schon seit geraumer Zeit nicht mehr zu sehen. Da ich ab und zu aufgestapelte Steine sehe, gehe ich davon aus, dass ich immer noch auf dem richtigen Pfad bin. Ich erhöhe das Tempo. Mich genauer umzusehen, dafür bleibt keine Zeit, ich muss einfach weiter, denn um 14 Uhr schließt das Kloster. Und es öffnet erst wieder um 15:30. Ich habe Bedenken, später nach dem weiten Weg zurück ins Tal noch einen Platz in einer Herberge zu bekommen. Bisher habe ich noch keine Reservierung. Jetzt irgendwo anzurufen, würde genauso wenig funktionieren wie die mobile Navigation. Da ich mich in der absoluten Wildnis befinde, habe ich auch keinen Handyempfang mehr.
Als ich nach knapp 2 Stunden endlich eine geteerte Straße erreiche, atme ich erleichtert auf. Ich habe mich nicht verirrt. Der handgeschriebene Zettel war sehr hilfreich und ich habe diesen Weg des Martyriums sogar in kürzerer Zeit geschafft, als in den Notizen angegeben war. Dennoch muss ich mich beeilen. Statt den Markierungen zu folgen, die oft Umwege in Kauf nehmen, folge ich der Straße.
Ich erreiche den Parkplatz vor dem Kloster. Zwanzig Minuten, bevor das Kloster zur Mittagszeit schließt. Als ich ankomme, wundere ich mich. Vor mir erhebt sich ein moderner, glänzender Protzbau. Dies ist nicht das mythische, sagenumwobene Höhlenkloster! Als ich auf meinem Handy nachschaue, wieder mit Mobilfunkverbindung, erkenne ich meinen Irrtum. Es gibt ein neues Kloster San Juan de la Peña und das befindet sich hier. Zu dem legendären Höhlenkloster sind es zu Fuß noch fünfzehn Minuten weiter, sagt mir die App. Somit bleibt mir nur noch eine Viertelstunde bis zur Schließung um 14 Uhr. Sonst müsste ich bis um 15:30 warten! Wie vom Teufel verfolgt, renne ich den ausgeschilderten Pfad hinab, erreiche gerade noch 2 Minuten vor Schließung des Höhlenklosters eine Bude mit einem Eintrittskartenverkauf, wische mir den Schweiß von der Stirn, schöpfe Atem und sage zu der Dame hinter dem Tresen: Eine Karte bitte. Und füge hinzu: Ich bin Pilger. Es gibt einen ermäßigten Eintritt für Minderjährige, Behinderte und Pilger von 7,50 Euro. Regulär 12 Euro.
In aller Ruhe händigt sie mir einen Zettel aus, auf dem 3 Sehenswürdigkeiten aufgezeichnet sind, die man mit der Eintrittskarte besuchen kann. Inklusive wäre ein Bus, der zwischen dem Alten Kloster und dem Neuen pendelt. Alle Sehenswürdigkeiten wären durchgehend bis 19 Uhr geöffnet, erklärt sie mir.
Wie bitte? Ich habe mich umsonst beeilt! Vielleicht sollten die auf Google Maps sowie auf ihrer Internetseite einfach mal ihre Eintrittszeiten aktualisieren, denke ich.
Das Kloster ist etwas Einmaliges. Es liegt unter einem mächtigen Felsüberhang und ist zum Teil in eine Höhle hinein gebaut. Hier befindet sich ein Heiligtum, um das sich große Legenden ranken. Etwas Vergleichbares findet man vielleicht in Covadonga in Asturien, einem Ort, von dem einst die Reconquista ausging. Um San Juan de la Peña ranken sich ähnliche Mythen und es entwickelte sich über Jahrhunderte zu einem Zentrum von spiritueller und politischer Bedeutung, bis es verlassen wurde und in Vergessenheit geriet.
Wenn man das Gebäude betritt, findet man im unteren Bereich eine Kirche aus dem frühen Mittelalter mit verwitterten Zeichnungen. Eine Weile genieße ich die Atmosphäre des uralten Gebäudes, in dem vor tausend Jahren vermutlich Einsiedler zurückgezogen von den Wirren der Zeit lebten. Es gibt ein oberes Stockwerk, dort sind Sarkophage aufgestellt, die man bei Ausgrabungen gefunden hatte. Alle Könige aus der frühen Zeit des Königreichs Aragon wurden hier bestattet. Auf dieser Ebene befindet sich noch eine weitere Kirche, deren Apsis sich ans hintere Ende der Höhle schmiegt. Dort steht, mit einer Sicherheitshaube aus Glas geschützt, auf einem Altar: der Heilige Gral! Von der Eintrittskartenverkäuferin hatte ich noch einen eingeschweißten Bogen erhalten, den ich nach dem Besuch zurückgeben muss. Dort steht, es wäre nur eine Kopie. Das Original befindet sich heute in der Kathedrale von Valencia.
Als ich aus der oberen Kirche heraustrete, erreiche ich einen Kreuzgang, der sich direkt unter dem Felsüberhang befindet. Das Kapitell jeder Säule stellt die jeweils wichtigsten Phasen im Leben von Jesus Christus dar. Die meisten sind sehr gut erhalten. Einzelne sind jedoch so verwittert, dass mehrere Interpretationen möglich sind, wie ich auf dem erklärenden Bogen lese.
Mit dem Besuch dieses Klosters kann ich auch das dritte Highlight, das ich auf dem Camino Aragonés sehen wollte, abhaken. Als ich meinen Rucksack abhole, den ich bei der Eintrittskartenverkäuferin hinterlegt hatte, sagt sie breit lächelnd zu einer Kollegin: „Ein Pilger!“. Offenbar bin ich so etwas wie ein Exot - und sie zeigt zu einem Bus, der gerade vorbeifährt. Mit dem könne ich sofort zum oberen, dem neuen Kloster fahren. Ich tue so, als würde ich dorthin gehen, schummle mich aber hinter ihrer Ticketbude vorbei. Was ich sehen wollte, war nur das Höhlenkloster. Ich bin kein Kulturbanause! Hätte ich die Zeit, würde ich in schwäbischer Art meine Eintrittkarte ausgiebig ausnutzen. Aber ich bin Pilger und kein Schwabe, muss ins Tal zurück und einen Übernachtungsplatz finden.
Als der Weg über Serpentinen aufwärts führt, bin ich kurz davor, umzukehren. Bis ich einem spanischen Pärchen begegne und die beiden frage, ob dieser Weg nach Santa Cilia führen würde. Beide nicken und erklären, in wenigen Metern würde ich auf einen Wegweiser treffen. Erleichtert sehe ich dort, der Pfad führt wirklich hinab ins Tal. Dieser wird wahrlich zu einem Weg des Martyriums! Ich wundere mich über den Kommentar auf meinem handgeschriebenen Zettel. Mittelmäßig anspruchsvoll, steht darauf, doch der Pfad führt steil abwärts über rundgeschliffene Flusssteine, auf denen man bei jedem zweiten Schritt ausgleitet und sich wieder fangen muss.
Erschöpft und mit aufgebrauchten Wasservorräten erreiche ich Santa Cilia. Bei der Herberge treffe ich niemand an. Im Schlafraum herrscht gähnende Leere.
Man solle sich einrichten und bei Bedarf bei der Verwalterin anrufen, lese ich. Dies tue ich, gönne mir etwas Ruhe und schaue mich danach im Ort um. Es ist ein verschlafenes Dorf. Kein Supermarkt ist zu finden, dafür zwei Restaurants. Im ersten scheint kein Betrieb zu sein. Daher begebe ich mich zum nächsten, bekomme ein paar Snacks und Bier. Die Dame am Tresen erklärt, sie wäre zugleich die Herbergsverwalterin. Ich könne für den Abend auch ein Pilgermenü bestellen. Was ich gerne tue. Später kommen noch zwei spanische Pilgerinnen hinzu und zusammen nehmen wir das Abendessen ein. Es ist sehr dürftig, was wir für 10 Euro bekommen, einen Salat und eine Suppe aus Tomaten und Kartoffeln. Ohne Getränk und ohne Nachspeise. Und das Menü wurde erst eine Dreiviertelstunde später serviert als angekündigt.
Die letzten Tage hatte ich mich mit dem Umweg über die Pyrenäen und der Märtyrertour über San Juan de la Peña sehr verausgabt. Dafür habe ich einen abenteuerlichen Weg hinter mir und alle Highlights gesehen, die ich mir vorgenommen hatte. Die weiteren Etappen des Camino Aragonés sind nicht besonders vielversprechend, zumindest was die Landschaft betrifft. Vermutlich mehr oder weniger an der Straße und flach. Daher habe ich die Entscheidung getroffen, mich auf die Heimreise zu begeben. Ich habe genug erlebt. Da von Santa Cilia nur einmal am Tag ein Bus fährt, und zwar in Richtung Jaca, laufe ich nach Puente la Reina de Jaca weiter. Dort gibt es auch Busverbindungen in Richtung Pamplona. Nach San Sebastian fahren Züge und dort startet auch mein Fernbus zurück in die Heimat.
Da es bereits absehbar war, dass es mit der Heimreise kompliziert wird, habe ich sicherheitshalber 3 Tage für die Rückfahrt eingeplant.
Nach einer Frühstückspause in Puente la Reina de Jaca frage ich in einem Café nach Busverbindungen, werde zur Haltestelle gegenüber verwiesen und lese dort, die Haltestelle wurde verlegt. Zu einem Parkplatz vor einem Hotel. Ich eile dort hin und schaue mich um. Dort entdecke ich aber weder einen Hinweis, ob der Bus tatsächlich hier hält, noch einen Fahrplan. Wieder zurück zur ursprünglichen Haltestelle. Dort suche ich nach Informationen, wann hier ein Bus fährt. Nichts. Nebenan befindet sich noch eine Tankstelle, so erkundige ich mich bei der Kassiererin. Sie wüsste nichts, entgegnet sie, aber ich könnte ihren Chef fragen. Er wüsste Bescheid. Der taucht bald auf, nimmt einen Zettel hervor und schreibt eine Notiz. Das wäre das Busunternehmen, das nach Pamplona fährt. Im Internet würde ich einen Fahrplan finden, wenn ich dessen Namen eingebe. Hach, ist das kompliziert!
Tatsächlich finde ich eine Information zu den Fahrzeiten. Der Bus fährt einmal am Tag. Unter der Woche am frühen Morgen. Am Sonntag erst abends. Es ist kurz nach zehn Uhr und so lange will ich nicht warten. Spontan entscheide ich mich, per Anhalter zu fahren und halte den Daumen hoch. Das hat bei vielen Pilgern gut funktioniert und nach kurzer Zeit jemand gehalten. Aber ich warte und warte. Unter gleißender Sonne. Sehe ich zu sehr wie ein Landstreicher aus?
Nach einer Dreiviertelstunde hält ein Lieferwagen. Ein freundlicher Mann lässt mich einsteigen und ich erfahre, er fährt bis nach Pamplona. Mein heutiges Ziel. Hurra! Statt den schnellsten Weg nimmt er lieber die Landstraße, sagt er. Der Weg wäre schöner, auch wenn die Fahrt länger dauert. Bald weist er zu einem See hinab und erzählt, dieser wäre weitgehend ausgetrocknet. Ein Stausee. Man kann deutlich erkennen, dass das Ufer ein paar Meter zu tief liegt. Oberhalb von uns gäbe es einige verlassene Ortschaften, Geisterdörfer. Ich blicke dorthin und es sieht wirklich gruselig aus. Der nette Fahrer heißt Juan Carlos, so wie der frühere spanische König. Juan Carlos ist Automechaniker, besitzt eine kleine Spedition. Er unternimmt Touren mit seinem Lieferwagen, in dem er auch übernachtet. Ich werfe einen Blick in den Laderaum und sehe eine breite Matratze. Welch praktische Idee! Und eine preiswerte Alternative zum Wohnwagen.
Nachdem ich in Pamplona ausgestiegen bin, gönne ich mir eine Tortilla und ein großes Bier. Ich habe das komplizierteste Stück der Rückreise hinter mir und jetzt kann kaum noch etwas schiefgehen. Nun melde ich mich bei der Herberge Jesús y María an. Bei der ersten Pilgertour im Jahr 2012 war sie voll belegt. Aber ich war auch wesentlich später angekommen. Anschließend streife ich durch die Stadt auf der Suche nach Souvenirs und Postkarten. Sicherheitshalber besorge ich mir frühzeitig eine Fahrkarte beim Bahnhof der Renfe, der spanischen Bahn, bevor ich zum frühen Abend in die Unterkunft zurückkehre.
Es gibt hier eine Küche, aber vorsichtshalber will ich vor einem Einkauf sicherstellen, dass auch Kochmöglichkeiten vorhanden sind. Nicht selten fehlen Töpfe und andere grundlegende Dinge. Als ich den Küchenraum betrete, werde ich sofort von einem chinesischen Pärchen angesprochen, ob ich mitessen wolle. Sie hätten zu viel gekocht. Zwischen ihnen steht ein großer Topf mit einer Mischung aus Pasta, Ei und Tomaten. Als sie sagen, sie müssten es sonst wegwerfen, nehme ich ihr Angebot an. Es erspart mir den Einkauf und die Zeit, mir etwas zuzubereiten. Und ihre Pasta schmeckt … genießbar.
Ich würze großzügig mit scharfer Paprika nach und so wird die Mahlzeit deutlich schmackhafter. Obwohl mir schon reichlich davon serviert wurde, ist immer noch jede Menge übrig. Das chinesische Pärchen bietet das Essen nun einer jungen Pilgerin an, die vor einem Laptop sitzt. Höflich lehnt diese ab. Aber gerade, als die Chinesin den Topf in eine Mülltonne leert, springt sie auf und sagt, in dem Fall hätte sie doch noch gerne etwas davon genommen. Zu spät!
Mit ihr komme ich anschließend ins Gespräch. Wir unterhalten uns erst auf Englisch, bis wir feststellen, dass sie Deutsch spricht und ich ebenso. Sie erzählt, dass sie gerade an ihrem Tagebuch auf „Insta“ schreibt (Instagram, eines der sozialen Netzwerke, das ich bisher vermieden habe). So wie ich, nur dass ich mittlerweile dazu übergegangen bin, meine Berichte nachträglich zu schreiben. Sie zeigt eine große, eiternde Wunde am Knie und erklärt, sie wäre auf dem Weg gestürzt. Seit 4 Tagen säße sie in Pamplona fest und warte darauf, dass die Verletzung heilt, damit sie weiterwandern kann. Die Wunde nässt, ist grün-gelb und sieht entzündet aus. Sie erzählt von ihren Plänen: nach der Ankunft in Santiago habe sie vor, weiter nach Süden zu wandern. Bis Lissabon. Ihr Rucksack, erfahre ich, wöge 22 Kilogramm. Als ich verwundert nachfrage, wie sie dieses bemerkenswerte Gewicht zusammenbekäme, erfahre ich, sie hätte ein Zelt dabei. Und zum Campen braucht man eben auch eine Isomatte, Campinggeschirr und Lebensmittel. Sie hätte bereits einige Dinge nach Hause geschickt. Ich rechne kurz nach und komme zu dem Ergebnis: mit 6,5 Kilo schleppe ich nicht mal ein Drittel von dem, was sie auf den Schultern trägt. So wie ihr Knie aussieht, kommt sie zwar nicht so bald von hier fort, hat dafür aber noch ausgiebig Zeit, an ihrem Pilgerbericht zu schreiben.
Vor der Rückreise will ich noch einen Auftrag erledigen: ein Comic-Heft in spanischer Sprache zu besorgen. Eine leichte Aufgabe, denke ich. Per Handynavigation finde ich auch einen Comicladen. Auf dem Weg dorthin entdecke ich eine mir bisher unbekannte Sehenswürdigkeit. Die Zitadelle von Pamplona! Heutzutage ist es ein Park, in dem ein paar Kanonen stehen. Rundum sind die Mauern in Form eines Fünfecks erbaut.
Der Laden öffnet laut Information aus dem Internet um 10 Uhr morgens. Als ich kurz vor 11 Uhr die gleiche Information auch am Schaufenster lese, sind die Jalousien noch heruntergelassen. Spanische Zeit, denke ich. Und Zeit, zu frühstücken. Zum Glück befindet sich auch ein „Eroski-Supermarkt“ direkt um die Ecke.
Eine Stunde später hat der Comic-Laden tatsächlich geöffnet. Aber als ich mich umschaue, finde ich nichts Bekanntes. Als ich nach Klassikern wie „Tim und Struppi“ und „Asterix“ frage, zeigt der Verkäufer auf ein Bücherregal, dort stehen zwei Hefte von „Asterix bei den Briten“. Mehr hat er nicht anzubieten. Enttäuscht über die Auswahl begebe ich mich zum Bahnhof. Vielleicht finde ich in San Sebastian noch etwas.
Der Zug rollt ein und ich schaue nach Wagennummer 18, die auf meiner Fahrkarte eingetragen ist. Er hat die Länge eines Güterzuges. Während er vorbeirollt, zweifle ich nicht mehr daran, dass an der Lok tatsächlich 18 Waggons hängen. Sogar insgesamt 21. Als der Zug hält, rennen alle Leute zugleich in die eine und die andere Richtung. Ein nervöser Security-Mann winkt eine Gruppe von Polizisten herbei, die einige Leute zur Seite drängen, damit die Passagiere erst aussteigen können, bevor sich eine Meute von Leuten durch die Tür in den Wagen hineinzwängt.
Die Fahrt weckt Nostalgie. Das stetige Tacktack-Tacktack, während der Zug durch das Land schleicht, erinnert mich an frühere Zeiten von Bahnfahrten in Deutschland. Das spanische Schienennetz scheint nicht ganz so modern wie das französische oder das deutsche zu sein. Und deutlich weniger ausgebaut. Offensichtlich verbindet es nur die wichtigsten Städte miteinander.
Bei der Ankunft in San Sebastian ist es bereits später Nachmittag. Ich spute mich, um noch einen Platz in der Pilgerherberge zu bekommen. Vom Bahnhof eile ich an der Strandpromenade entlang, im Slalom durch Strandpromenaden-Flanierer, während ich hier und dort anecke, bis ich endlich die Adresse der Unterkunft erreicht habe. Ich gehe die Straße auf und ab, bis ich sicher bin, dass dies die richtige Adresse ist. Und ebenso sicher, dass es diese Einrichtung nicht mehr gibt. Die wurde wohl aufgegeben. Zum Glück ist es nicht weit bis zur Jugendherberge, in der ich damals auf dem Camino del Norte übernachtet hatte. In der gibt es eine Unzahl von Betten. Der Hinweis am Eingang „COMPLET“ bedeutet nichts Gutes. Als ich hineingehe und nachfrage, ob dies ein Irrtum wäre, oder womöglich eine Registrierung zurückgenommen wurde, bestätigt einer der für die Herberge zuständigen die unfrohe Botschaft, dass es keinen Platz mehr gibt. Schauen Sie bei „Booking“ entgegnet er kurz und wendet sich ab. Er meint wohl „Booking.com“. Das ist eine Art Mafia!
Sicherlich nichts für mich, denke ich und schaue, was mein Handy an Alternativen zu bieten hat. Unterkünfte von 80 Euro bis 500 Euro pro Nacht! Nach einem Fehlschlag, als das einzige, als „Hostal“ bezeichnete sich als teures Hotel entpuppt, bleibt nur noch eine weit außerhalb gelegene Unterkunft.
Nachdem ich die Strandpromenade zurückgelaufen bin, San Sabastian hinter mir gelassen habe und über Serpentinen aufwärts stapfe, läuft mir die Zeit davon, um Comics in spanischer Sprache zu finden. Dafür wird es zu spät. Wenn ich mich jetzt nicht beeile, muss ich im Freien schlafen. Ulia stellt sich als Ortsteil weit außerhalb dar. Nach einer längeren Wanderung durch reinste Wildnis, vorbei an Bambusfeldern und Bananenbäumen finde ich endlich die Herberge, in der es für mich als Pilger preislich akzeptable Übernachtungsplätze gibt.
Ich hätte eine Abkürzung nehmen können, informiert mich die Herbergsverwalterin bei der Anmeldung. Es gäbe eine Treppe, die hier hinaufführt. Der Weg über die Serpentinen sei ein weiter Umweg gewesen. Google Maps kennt eben nicht alle Wege, wird mir mal wieder bewusst.
An diesem Abend gäbe es eine große Fiesta mit Feuerwerk in der Stadt, die man unbedingt ansehen sollte, erfahre ich weiter. Ich bekäme ein Zimmer mit vier Betten für mich allein, erklärt sie mir, bevor zwei junge Männer hinter mir auftauchen. Sie benötigen nur einen zugelassenen Stellplatz für ihren Wohnwagen, sagen sie. Zu meiner Überraschung sind es zwei Bayern, die Strände zum Surfen suchen. Während sie durch Frankreich gefahren sind, hätten sie keinen gefunden. Da ich bereits den ganzen Camino del Norte entlanggelaufen bin, kenne ich jeden Sandstrand an der spanischen Nordküste und empfehle den Bayern, sich in Kantabrien umzusehen.
Abends schaue ich mir das Feuerwerk in San Sebastian an. Es gibt tatsächlich diese Treppe, die bis zum Strand hinab führt.
Das Wetterleuchten im Hintergrund ist wirklich beeindruckend. Ich schaue abwechselnd zum Feuerwerk und zu den Blitzen Poseidons, als mir bewusst wird, dass der Weg zur Herberge zurück sehr ungemütlich wird, wenn sich das Gewitter in seiner vollen Kraft entfaltet.
Einer der zwei Surfer schläft in meinem Zimmer. Als ich am nächsten Morgen das Badezimmer betrete, ist es bis in den letzten Winkel mit Dingen zugestellt, die einen Surfer schön machen. Surfer-Bräunungscreme bis Haarstyling-Creme mit Surfer-Look. Nachdem ich eilig meine Zähne geputzt habe, versuche ich, meinen Rucksack so leise zu packen, dass der Surfer-Schönling nicht aufwacht. Ich eile die Treppen hinunter, bis ich den Rand der Stadt erreiche. Vor der Abfahrt noch Comics in Spanisch zu besorgen, wird nicht mehr möglich sein. Heute ist Maria Himmelfahrt. Einer der höchsten Feiertage der Katholiken. Zudem fährt mein Bus um 9 Uhr morgens. Zu dieser Zeit schlafen spanische Comicverkäufer noch.
Der Fernbus hält in Paris. Ich nutze den Aufenthalt, um mich in einem Supermarkt für mein Abendessen einzudecken.
Zwar ist es mit dem zeitraubenden Umweg über Paris nicht die sinnvollste Busverbindung von San Sebastian nach Karlsruhe. Aber alles andere wäre deutlich teurer gewesen. Die Zugfahrt hätte das doppelte gekostet, ein Flug noch 50% mehr. Die Fahrten mit den Fernbussen sind mittlerweile auch keine Schnäppchen mehr und ich musste feststellen, dass man bei den Preisen deutlich aufgeschlagen hatte. Dennoch war der Bus immer noch das Preisgünstigste.
Der Flixbus ist mittlerweile offenbar besonders beliebt bei den Beamten der Grenzkontrolle, denke ich, als die Durchsage zu hören ist, man solle den Personalausweis bereithalten.
Zuvor gab es einen Stopp in Straßburg. Auf dem Busparkplatz ist mir eine große Zeltstadt aufgefallen, in der sich überwiegend Dunkelhäutige aufhalten. Es sind auf der Flucht nach Europa Gestrandete, denke ich.
Nachdem einer der Beamten meinen Ausweis inspiziert hat und nickt, alles okay, bin ich erleichtert. Als Deutscher darf ich nach Deutschland einreisen. Dafür dauert es bei dem Fahrgast hinter mir deutlich länger. Er könne kein Englisch, antwortet er, als die Beamten ihn ansprechen. Ich höre, wie sie über einen Zettel diskutieren, den er ihnen ausgehändigt hat. „Reicht sowas?“ … „Nein. Das ist nicht Schengen-gültig.“ … „Ausreisepflichtig, steht hier!“ Über Handy schalten sie jemanden zu, der dem Fahrgast erklärt, er hätte keine Einreiseerlaubnis und solle den Beamten folgen. Als der Mann hinter mir auf Englisch erschrocken ruft, ob er jetzt sein Handy wiederhaben dürfte, murmelt der jüngere Beamte „er kann plötzlich doch englisch“.
Wegen der Grenzkontrolle morgens in Karlsruhe, mit einer Stunde Verspätung, beeile ich mich, nach Hause zu kommen. Nach über 24 Stunden Fahrt falle ich übermüdet ins Bett. Den Rest des Tages benötige ich, um mich von der langen Fahrt zu erholen.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, erinnere ich mich an die letzten Tage und denke: Das war ein wirkliches Abenteuer! Trotz aller Strapazen ist es immer gut ausgegangen. Und: jeder Umweg hat sich gelohnt!