Via Gebennensis
Region Auvergne-Rhône-Alpes
Wie zu jedem Camino reise ich mich dem Fernbus an, vielleicht aus Tradition, es ist jedenfalls unkompliziert, preisgünstig und man kommt fast überall hin. Allzu komforttabel ist es nicht, besonders wenn der Sitzplatz neben einem von jemand besetzt wird, der mehr als die 50% beansprucht, die ihm zustehen. Eigentlich war für diesen Sommer der Camino Mozarabe angedacht, nach der Wetterprognose mit Temperaturen bis zu 48 Grad in Andalusien war das Vorhaben erstmal vertagt. Es war ein neuer Plan nötig und so wurde es die Via Gebennensis. Der Pilgerweg von Genf nach Le Puy-en-Valay. Mit dem Nachtbus komme ich kurz nach 4 Uhr an, im Morgengrauen geht es auf den Camino. Das Stadtgebiet von Genf scheint sich nicht allzu weit auszudehnen, denn noch am Vormittag befinde ich mich in einer Idylle von Landwirtschaft und Natur vor einer Gebirgskulisse.
In dem Ort Mont-Sion überrascht mich ein bunt geschmückter Weihnachtsbaum und ein ganz im Sinne von Père Noël dekoriertes Anwesen. Hier scheint man ganzjährig Weihnachten zu feiern. Wie ich später erfahre, gibt es in Frankreich mittlerweile auch eine Mère Noël, so wurde auch die Gleichberechtigung beim Weihnachtsfest sichergestellt.
Was Unterkünfte angeht, habe ich noch keinen Plan, das einzige ist ein Etappenplan auf dem Handy. Nach etwas über 35 km endlich sehe ich ein Hinweisschild, daß sich im nächsten Ort eine Gîte d'Etape befinden würde. So heißen die Pilgerherbergen in Frankreich. Der Ort nennt sich Contamine-Sarzin. Irgendwie muß ich bei diesem Namen an „Glyphosat“ und „Deutschland schafft sich ab“ denken - was wohl eine Nebenwirkung des Konsums deutscher Medien sein könnte. Mit den Chem-Trails über mir und dem Gedanken „Deutschland schafft sich ab“ mache ich mich auf die Suche nach dieser Herberge und erkundige ich mich bei einem Einwohner nach dieser Gîte.
„Un guide?“, fragt er etwas irritiert.
Nein, einen Führer suche ich nicht. Doch es war mein Fehler. Mit dem Französischen bin ich etwas aus der Übung und hatte das Wort Gîte falsch ausgeprochen. Schiet hätte ich korrekt sagen müssen, doch das Missverständnis ist schnell geklärt. Und ich bekomme eine Wegbeschreibung. Die mir jedoch auch nicht hilft, denn die Dame vor Ort macht mit einem Wort „Complet“ die Hoffung auf eine Unterkunft zunichte.
Mit Deutschland schafft sich ab in Gedanken geht es weiter und einen Geröllhang steil abwärts, der in den nächsten Tagen Schmerzen zur Folge haben wird. Auf dem Weg nach Chaumont ist die Gîte d'Etape zum Glück gut ausgeschildert, die sehr gemütliche Hütte erreiche ich nach einem knapp 40 km langen Marsch.
In Chaumont gibt es eine Burgruine aus dem 11. Jahrhundert, die teilweise rekonstruiert ist. Wenig ist jedoch von dem Bauwerk erhalten.
Diese Region, die einst die Grafschaft Burgund war, ist fest in bäuerlicher Hand. Champagne heißt dieser Ort, in dem ausschließlich Milchkühe gehalten werden. Eigentlich könnten die Einwohner ein richtig dickes Geschäft machen. Während kaum jemand einen zusätzlichen Cent für Milch bezahlen würde, weil sie aus dem Ort Champagne kommt, wäre es etwas vollkommen anderes, würde man hier Wein kultivieren. Das bringt mich auf eine Geschäftsidee. Ich könnte die Bauern in dem Ort überzeugen, Sekt herzustellen, den man legal „Mousseux de Champagne“ nennen und für 100 Euro die Flasche an Hipster verkaufen würde. Und den Gewinn würde ich mit den Bauern teilen. Bei einem angedachten Produktionspreis von 1 Euro pro Flasche hätten beide etwas davon. Keine billige Plörre, wie man sie bisweilen in Flaschen mit dem herkunftsgeschütztem Namen Champagner findet sollte es sein, sondern etwas von akzeptabler Qualität.
In Seyssel bekomme ich im Tourismusbüro das gelbe Heft der französischen Jakobusgesellschaft, das mir empfohlen wurde. Darin sind alle Herbergen und Privatunterkünfte der Via Gebennensis verzeichnet. Und die Dame von der Touristeninfo meldet mich netterweise gleich telefonisch bei einer Unterkunft an.
Der Platz für die Nacht ist in einem Accueil Jaquaire. Dies sind Privatunterkünfte, die für Pilger preisgünstig angeboten werden. Die Inneneinrictung gleicht einem Museum. In dem ehemaligen Kapuzinerkloster sind die vier Betten zwar belegt, aber ich bekomme einen Matratzenplatz, der fast luxuriös anmutet.
Die heutige Etappe ist fast vollständig eben und führt an der Rhône entlang. Bis eine Brücke, die einem Riesenrad ähnelt, in den Ort Chanaz führt.
Chanaz ist touristisch sehr frequentiert. Die Restaurants direkt an der Uferpromenade sind hochpreisig. Es gibt Highlights wie die Nußölmühle, die bei ihrem Einsatz demonstriert wird. Da ich als Pilger kaum etwas kaufen und transportieren kann, nutze ich die Gelegenheit, neben Nußöl andere Spezialitäten wie Feigen-Nußöl-Paste zu verkosten.
Auf dieser Etappe fällt auf, daß die Region vor allem für Weinanbau genutzt wird. Vermutlich beenden die meisten Trauben ihr irdisches Dasein als Flasche mit der Herkunftsbezeichnung Côtes du Rhône.
Es geht ins Gebirge und nach einem Aufstieg erreiche ich eine kleine Kapelle, die dem Heiligen Roman gewidmet und durch ein Gitter gesichtert ist. Etwas traurig wirkt die kleine Statue des Heiligen hinter dem Gitter. Danach folgt auf einem Serpentinenweg ein steiler Abstieg, der sehr schmerzhaft ist. Die Nachwirkungen der ersten Etappe merke ich hier intensiv an Schmerzen in den Kniegelenken.
Um Auskünfte zu Übernachtungsmöglichkeiten zu bekommen, folge ich den Wegweisen zum Tourismusbüro. Ich erreiche jedoch ein „Maison de la Dent du Chat“. Ein Zahnarzt für Katzen! Wo, bitteschön, ist die Touristeninformation? Erst später stelle ich fest, daß Dent du Chat in dem Ort eine besondere Bedeutung hat. Unter anderem gibt es auch einen „Tomme de Montagne Dent du Chat“, einen regionalen Katzenzahn-Bergkäse. Das Katzenzahngebirge, das in der Nähe liegt, ist Namesgeber unter anderem auch für das Touristenbüro.
Die Unterkunft ist ein ehemaliges Kapuzinerkloster und beim Abendessen treffe ich auch andere Pilger. Eine ältere Schweizerin erzählt, daß sie von Genf bisher drei Tage unterwegs war. Trotz ihren 75 Jahren ist sie wohl eine Art Speedy Gonzales. Für die gleiche Strecke habe ich vier Tage gebraucht und die Folgen der ersten, langen Etappe wirken sich in meinen Kniegelenken fatal aus. Ganz in Form bin ich wohl nicht. Auch ein älteres französisches Pärchen ist beim Abendessen und der Mann erzählt, daß er zusätzlich eine medizinische Ausrüstung im Rucksack transportieren muß. Im Schlaf fällt er öfters in Atemstillstand und benötigt das Gerät, um seine Atmung zu stimulieren.
Die heutige Etappe führt durch das Gebirge und beginnt mit einem Aufstieg von 500 m Höhendifferenz. Sie führt durch malerische Dörfer, vorbei an Obstgärten, an denen die Bäume reichlich Äpfel, Pfirsiche und Pflaumen tragen. Diese stehen direkt am Wegrand und locken einen, davon zu probieren. Aber in der Erinnerung an Bilder von Demonstrationen französischer Bauern, die einem Bürgerkrieg gleichen, halte ich mich zurück, damit ich nicht an einem Pflaumenbaum aufgeknüpft werde. Beim Abstieg, der wieder in die Flussebene zurückführt, merke ich abermals, daß es mit meiner körperlichen Verfassung nicht zum besten steht. Jeder Schritt schmerzt.
Die Unterkunft ist ein Bungalow auf dem am Fluss gelegenen Campingplatz. Ein Jahrmarkt ist direkt nebenan, Abends ist Musik zu hören und immer wieder hysterisches Geschrei, als würde eine populäre Boyband spielen. Es ist die Art Geräuschkulisse, die einem das Gefühl gibt, etwas zu verpassen. Wenn man jedoch direkt vor Ort ist, will man immer so schnell wie möglich wieder heim.
Nach einem kurzen Stück am Fluss entlang führt der Weg wieder aufwärts und durch eine von Landwirtschaft geprägte Provinz. Man sieht einige Gebäude, die als Scheunen dienen und aus Lehm errichtet sind, was an die spanischen Mesetas erinnert. Auf Empfehlung zweier französischer Pilger begebe ich mich heute in ein Accueil Jaquaiere, wo ich die beiden wiedertreffe. Die Beschreibung „Barrier rouge gegenüber der Kirche“ hilft mir, die Unterkuft zu finden, da dort keine Hausnummer zu finden ist. Die Gastgeberin gibt sich alle Mühe, ein reichhaltiges Abendessen mit Gratin, Gulasch, Zucchini-Auflauf und vielem mehr zusammenzustellen, das für eine ganze Kompanie gereicht hätte.
Die Etappe führt nach einem anstrengenden Anstieg abwärts zu einem Wildgehege, in dem einige Rehe und ein Hirsch Platz im Schatten gefunden haben. Beim Fotografieren merke ich, daß jene Warnung, daß der Zaun um das Gehege unter Spannung stände, ernst gemeint ist, als ich ein unangenehmes Zucken verspüre. Danach bin ich vorsichtiger und versuche, Fotos aufzunehmen, ohne den Zaun zu berühren.
In der heutigen Unterkunft, wieder einem Accueil Jacquaiere, bin ich der einzige Gast bei einem älteren Ehepaar. Im Badezimmer sieht man die Hinterlassenschaften vorheriger Pilger, an denen man sich bedienen darf. Zum Glück habe ich meine eigene Zahnbürste dabei. Ob diesen Ort La Frette zu besuchen eine Reise wert ist, das ist fraglich. Es gibt die Kirche. Das ist mehr oder weniger alles. Von der Gastgeberin bekomme ich einen Schlüssel, damit ich sie von innen besichtigen kann.
Die Gastgeberin in La Frette hatte mir erzählt, daß derzeit das Berlioz Festival zu Ehren des Komponisten Berlioz stattfinden würde, der in Saint-André geboren wurde. In einer Kirche unterwegs findet ein Klavierspiel statt, das inklusive mir drei Zuhörer hat. Es ist eine der wenigen größeren Städte, die hässlich und schön zugleich sind. Es sind ein paar mittelalterliche Bauten zu finden und Gebäude aus der Neuzeit. Kurz vor dem Ziel der heutigen Etappe werde ich im Slalom durch die mittelalterliche Stadt Pommier-de-Beaurepaire geführt. Zwar soll der Weg einen an den interessantesten Sehenswürdigkeiten vorbeiführen und es ist auch der eine oder andere Umweg berechtigt. Aber hier finde ich es übertrieben, daß man jede Straße durchlaufen und jedes einzelne Gebäude sehen muß. Die Pilgerherberge von Pommier-de-Beaurepaire ist geschlossen, wie ich bei einem Anruf vorher erfahren hatte, daher ist das Ziel der heutigen Etappe Primarette.
Es ist keine Stadt, kein Dorf und nicht einmal eine Siedlung. Zwei benachbarte Bauernhöfe. Einer davon ist ein Accueil Jaquaiere und wird von einer französisch-indischen Familie mit zwei Kindern betrieben. Der Franzose hatte die Inderin auf einer Weltreise kennengelernt und auf den heimischen Hof mitgebracht. Der Schlafsaal ist ein renovierter Raum in einem alten Heuschober. Zum Abendessen kocht der Franzose ein leckeres und besonders reichhaltiges Menü aus selbst angebautem Gemüse und frischen Früchten, das mit einer fünf-Sterne-Küche konkurrieren könnte. Mit der einzigen Pilgerin außer mir diskutiert er eifrig über Politik, unfähige Minister und Ähnliches, soweit ich es in französisch mitbekomme. Sein Lieblingsthema scheinen Chemtrails zu sein. Flugzeuge, die chemische Kampfstoffe in der Atmosphäre versprühen, um die Menschheit dumm zu halten. Als ich mein Gemüse nachsalze, fällt mir bei der Analyse des Streuers auf, daß das französische Salz anders als bei uns gar nicht mit Jod angereichert ist. Da wird mir klar: die Chemtrails sind nur ein Ablenkungsmanöver, damit keiner Verdacht wegen dem angeblich gesunden Jod im Speisesalz schöpft.
Zu Beginn führt der Weg unter einer TGV-Trasse hindurch, danach finde ich eine herrenlose Sonnenbrille auf dem Pfad. Der Eigentümerin begegne ich wenige Kilometer weiter, sie ist eine von fünf sächsischen Pilgern. Die Etappe ist zumeist eben und führt durch weitläufige Weinreben, bis ich eine Autobahn überquere und mich auf die Suche nach der Unterkunft begebe. Die erste Möglichkeit, ein Campingplatz, ist belegt und ich versuche, telefonisch jemand in einer der im gelben Heft genannten Unterkünfte zu erreichen. Heute habe ich dabei wenig Glück und erst in dem wesentlich weiter gelegenen Chavanay gäbe es eine Pilgerherberge. Ich überquere die lange Brücke über die Rhône und bewundere das am Ufer gelegene Atomkraftwerk. Es ist es kurz vor 20 Uhr und überraschend begrüßt mich ein französischer Hüne. Er fragt mich, ob ich der bin, der angerufen hatte, was ich bejahe. Daraufhin nimmt er mich mit seinem Auto zur Herberge mit. Eine Radlergesellschaft von Franzosen feiert dort und ich lerne dort auch zwei junge schwäbische Pilger aus Crailsheim kennen, die vorhaben, den ganzen Weg bis nach Santiago zu gehen. Ein wenig verrückt, finde ich. Besonders wenn es die erste Pilgertour ist.
Bei einer Rast in der ersten Stadt auf dieser Etappe lerne ich eine deutsche Pilgerin kennen, die vorhat, bis nach Santiago zu pilgern. Zusammen mit der Verrückten setze ich den Weg fort, der durch Apfelplantagen führt. Sie erzählt, daß sie ausschließlich die Äpfel nimmt, die auf den Boden gefallen sind, sonst wäre es Diebstahl. Bei der gemeinsamen Wanderung halte ich mich daher zurück, Früchte von Plantagen zu ernten.
Die heutige Herberge wirkt äußerst heruntergekommen, wie ein verlassenes Fabrikgebäude, in dem Sperrmüll deponiert wurde. Dennoch hat die Unterkunft ein besonderes Flair. Abends im Garten lernen wir einige Bewohner kennen, die viele Hunde halten und ziemlich alternativ wirken. Bei der Einladung zum Bier kommen wir mit ihnen ins Gespräch, während ein Nachbar gegenüber auf dem Dach spätabends mit einer Hilti werkelt. Die Bewohner dieser Unterkunft erzählen, daß sie mit ihm befreundet wären und sich daher nicht über den Lärm beschweren.
Meine neue Pilgerbegleitung beschwert sich, dass es auf diesem Jakobsweg weder eine Einkaufmöglichkeit, noch irgendein Café oder Restaurant gäbe, wo man einfach eine Pause einlegen und einen Kaffee trinken könnte. Das vermisse ich ebenso auf diesem Weg. Man sieht Weinreben, Kühe, Maisplantagen, viel Rindermist, Natur und Bauernhöfe so weit das Auge reicht. In Bourg-Argental gibt es endlich alles Mögliche, sogar mehr als eine Boulangerie, eine Charcuterie und einen Supermarkt. Aber ein gemütliches Café findet man hier nirgends, ausser Coffee-to-go, den man in einer Bäckerei mitnehmen könnte. Offensichtlich hat man in dieser französischen Provinz noch nicht die Vorzüge einer gemütlichen Mittagspause mit einem frisch gebrühten Kaffee erkannt. „Die Idee des Savoir vivre“ oder „Leben wie Gott in Frankreich“ hat diese Provinz wohl nicht erreicht.
Diese Etappe finde ich besonders spannend, als ich Besonderheiten entdecke. Einen von Brombeerranken halb zugewachsenen Tunnel erkundige ich ein paar Meter, bevor mir in der Finsternis ein wenig mulmig wird. Vielleicht ist dies ein ehemaliges Schlupfloch der Résistance, das noch mit Minen gesichert ist. Als ich eine Brücke überquere, die für einen so abgelegenen Pfad sehr aufwendig konstruiert ist, mache ich mich auf die Recherche im Internet und erfahre, dass es sich um eine stillgelegte Bahnstrecke handelt. Es gibt von Brombeersträuchen überwucherte Tunneleingänge, eine Bahnbrücke und bei der Wanderung fällt mir auf, dass dieser Weg, den nur leichte Kurven auszeichnet, eindeutig für eine Bahn konstruiert wurde. Bei einem Rastplatz treffe ich die Mitpilgerin wieder, die ich aufgrund ihres Marschtempos schon verloren glaubte. Wenig später finden wir ein verlasssenes Bahnhofsgebäude.
Auf einem einsamen Pfad geht es aufwärts und während ich bei einem ablegenen Landgut eine Rast einlege, marschiert meine Pilgerbegleitung ohne Ruhepause weiter. Nach diesem letzten Zeichen von Zivilisation wird es richtig einsam. Der Weg steigt weiter an. Die Vegetation verändert sich von Mischwald zu Nadelbäumen und während ich durch moosüberwachsenen Wald wandere, zieht Nebel auf. Gespenstisch. Ein einsamer Bach plätschert am Weg und hier fülle ich meine zur Neigung gegangenen Wasserreserven auf. Auf über 1000 m Höhe muss man sich keine Gedanken darüber machen, ob dieses Wasser auch dem deutschen Reinheitsgebot entspricht. Es wird keine Fäkalien oder Dünger von Feldern enthalten, keine Pestizuide oder Herbizide, Östrogene. Reste von Gift gegen Schimmelbefall, und auch nicht durch Strahlungsmüll oder Elektronikschrott belastet sein, der wild in der Landschaft entsorgt wurde. So kann ich das Wasser bedenkenlos genießen. So richtig lecker schmeckt es jedoch nicht, es hat einen etwas bitteren Geschmack von Kalk, Moos, Lehm.
Das einzige Zeichen von Zivilisation sind Stapel von Baustämmen und ein Traktor, er an einer Kette ein Bündel Baustämme zieht. Am höchsten Punkt, auf etwas über 1200 m, endet der Wald und es bietet sich ein Blick über ein Bergdorf. Felder rundum, Rinderzucht, alpine Landschaft. Später zieht Nebel auf und es beginnt ein leicher Regen. Der Ort befindet sich, wie es scheint, auf Wolkenhöhe. Die Herberge bietet Platz für fast fünfzig Personen, ist jedoch mit dem Pärchen aus Crailsheim, meiner Mitpilgerin und mir nur minimal besetzt.
Als Abwechslung zu Rinderzucht gibt auf dieser Etappe, die zumeist abwärts führt, eine Schweinefarm zu sehen. Das Highlight von Montfaucon ist eine Ausstellung in der Kirche Notre-Dame aus dem 16. Jahrhundert. In 12 Bildtafeln, gezeichnet von dem flämischen Maler Abel Grimmer, wird das Leben Christi im Verlauf der Jahreszeiten dargestellt. Es ist quasi ein Kalender. Für jeden Monat ein Bild. In der Herberge von Montfaucon gibt es mehrere Zimmer mit jeweils vier Betten, die an diesem Tag können sich die insgesamt nur fünf Pilger jeweils ein eigenes Zimmer nehmen.
Wenige Kilometer nach Montfaucon erreiche ich Tence. Die Stadt empfinde ich als viel laut nach den Tagen in der Provinz. Die gesamte Altstadt wird mit Jahrmarktattraktionen zugebaut, Autosfahrer suchen sich verzweifelt einen Weg durch die Absperrungen und überall sind Horden von Touristen unterwegs. Den Markierungen durch den Ort zu folgen, stellt sich das erste Mal auf dem Weg als schwierig heraus. Entweder fehlen sie oder sind von Schießbuden und Fressständen verdeckt.
Als ich die Sportplätze und Vorstadtsiedlung von Tence hinter mir gelassen habe, folgt ein ein leichter Anstieg, bis sich mir nach einigen Kilometern ein Panoramablick eröffnet. Rundum Wiesen. Auf einer Anhöhe erhebt sich ein Kirchturm. Eine wirkliche Postkartenlandschaft, zum ersten Mal auf diesem Camino. Am Wegrand lese ich eine Texttafel, die darauf hinweist, dass nun die Vulkanlandschaft der Valay-Region beginnt und man den ersten Kegel des 1388 hohen Lizieux sehen könnte. Als ich bei der Pilgerherberge von Saint-Jeures kurz nach Mittag ankomme und nach einem Platz frage, entgegnet die Gastgeberin, die Unterkunft wäre schon voll belegt. Ich hatte gar nicht an eine Reservierung gedacht, da in den letzten Tagen kaum jemand unterwegs war, doch war mir unterwegs schon der eine oder andere Wanderer mehr aufgefallen. Sie kann die Zimmerbelegung jedoch umorganisieren, sodass ich doch noch ein Bett bekomme. Es gibt eine große Gemeinschaftstafel mit Abendessen. Meine Sitznachbarn ist ein älteres schweizerisches Paar. Ich erfahre, dass die Frau fast blind ist und auf nur noch einem Auge eine Sehkraft von 10% hat. Unterwegs muss ihr Mann daher immer als Wegfinder vorausgehen und sie vor Hindernissen warnen.
Auf dieser Etappe laufe ich an vielen Pferdekoppeln vorbei. Viele der Tiere sind recht fotogen und tragen eine beeindruckende Haarpracht. Manche haben Ähnlichkeit mit bekannten Personen, ein Pferd erinnert mich an Axl Rose.
Auf den finalen Etappen sind auffällig viele Pilger unterwegs. Ein Stück wandere ich mit einigen Bekanntschaften aus den letzten Tagen, es sind überwiegend Schweizer und ein Franzose. Von einer Schweizerin erfahre ich, dass sie unter Narkolepsie leidet, eine Erkrankung, bei der man plötzlich vom Schlaf übermannt wird. Sie ist daher auf Medikamente angewiesen, die sie sich im voraus auf dem Weg schicken lassen muss. Da es ein in Frankreich und Spanien nicht zugelassenes Medikament ist, kann sie es nicht über Apotheken beziehen, sondern muss dazu immer eine Klinik aufsuchen. Wegen eingeschränkter Haltbarkeit kann sie jeweils nur einen Vorrat für jeweils 2 Wochen abholen, was einen besonderen Planungsaufwand bedeutet. Zudem benötigt sie alle paar Stunden eine halbe Stunde Schlaf, um nie in Müdigkeit zu verfallen. Bis Santiago will sie gehen, erzählt sie.
Ein besonders beeinduckender Felsen ragt aus einer Siedlung, vermutlich ein Vulkankegel. Obwohl der Ort Queyrières etwas abseits des Weges liegt, mache ich einen Umweg, um mir dieses Wunder der Natur aus der Nähe anzuschauen. Dieser Stein ist sogar erkletterbar, auch wenn man sich dabei geschickt anstellen und den Rucksack unten lassen muss. Von oben bietet sich eine Panoramasicht rundum. Der Aufstieg hat sich gelohnt.
Viele Orte auf dieser Etappe tragen Namen wie Saint. Man merkt, welche Bedeutung die Heiligenverehrung in dieser Region einst hatte, vielleicht noch heute. In Saint-Julien-Chapteuil befindet sich der größte Kirchenbau auf dem bisherigen Weg, der auf einem Felsen über dem Ort throht. Im Schein der Abenddämmerung gleicht die malerische Landschaft mit seinen Vulkankegeln einer Karl-May-Filmkulisse.
Den meisten Teil des Weges wandern wir als Pilgergemeinschaft mit einem Franzosen und vier Schweizern. Für mich ist es ein Glück, dass auch ein Franzose dabei ist und man in der Gruppe daher zumeist französisch spricht. Wenn sie sich dagegen in Schweizerdeutsch unterhalten, verstehe ich zumeist kein einziges Wort.
Von dem letzten Hügel kann man plötzlich die weite Ebene von Valay sehen. Knapp zehn Kilometer vom Ziel entfernt erkennt man zwei Objekte in der Ferne, die markant aus einer großen Ansammlung von Häusern herausragen. Zweifellos, das eine muss die berühmte Felsnadel von Le Puy mit der Kapelle auf der Spitze sein. Unverwechselbar. Etwas Vergleichbares gibt es, meines Wissens, auf dieser Welt kein zweites Mal. Was mich überrascht ist das zweite Objekt, eine Art Engelsfigur. Sie wirkt von hier oben, aus vielen Kilometern Entfernung, winzig.
Die Pilgergruppe hatte sich unterwegs aufgeteilt, aber an einem Fluss treffen sich alle wieder. Es ist der letzte Ort vor Le Puy, wir wandern an den Resten einer eingestürzten Brücke vorbei. Kein einziges Mal ist auf den letzten Kilometern die Felsnadel zu sehen. Stunden später, ganz plötzlich, thront über uns die Engelsfigur. Und kurz darauf erreichen wir auch den Felsen mit der Kapelle.
Es ist ein Wunder der Natur, das man eine Weile auf sich wirken lassen muss. Le Puy ist ein gutes Ziel für eine Pilgertour, wird mir bewusst, denn es ist eine Freude, dieses Unikat anzuschauen. Am Ende braucht man für alle Strapazen, die Blasen an den Füßen, Schmerzen in Gelenken und den Sorgen ob man nachts draußen schlafen muss, eine besondere Belohnung. Wie in Spanien die Kathedrale von Santiago, in Italien die Basilika von Assisi oder den Petersdom, ist es in Frankreich der Rocher Saint-Michel d'Aiguilhe. Einst der Kegel eines Vulkans und heute eine Felsnadel mit einer Kapelle auf der Spitze. Abends trifft sich die Gruppe zum Abendessen. Dann löst sich die Pilgergemeinschaft auf.
Die Lichtshow Puy en Lum�res, wenn Nachts der Vulkan ausbricht und sich ein Drache aus dem Felsen erhebt, anzuschauen, dazu kann ich leider keinen überreden. Daher begebe ich mich alleine dorthin. Speziell wegen der Show bin ich ursprünglich hergekommen. Vor Ort ist sie leider nicht ganz so beeindruckend, wie sie auf Youtube wirkt.
Das Grand Séminaire hatte ich als Übernachtungsplatz ausgewählt, da es mir mit 200 Plätzen am sichersten erschien, dort ein Bett zu bekommen. Es sind Einzelzimmer. Etwas anoynm, zweckmäßig eingerichtet, aber das Positive ist die schöne Aussicht auf die beleuchtete Kathedrale in der Nacht. Und die Statue Notre-Dame de France, die man vom Innenhof aus sehen kann.
Ich hatte einen Tag für die Stadtbesichtigung eingeplant und mein erster Weg führt mich in die Kathedrale. Die Lage, wie sie über der Stadt thront und die bunte Fassade sind etwas Besonderes, aber innen unterscheidet sie sich kaum von einer anderen Kirche.
So etwas wie eine Compostela zu bekommen, gelingt mir nicht, in Le Puy ist man noch nicht auf die Idee gekommen, eine Urkunde für die Via Gebenennsis zu auszustellen. Als nächstes werde ich die Dame besteigen. Die Statue Notre-Dame de France wurde aus Kanonen gegossen, die beim Krimkrieg erbeutet wurden und hat eine Höhe von 16 m. In ihrem Inneren führt eine Wendeltreppe hinauf. Man kann aus zahlreichen Luken hinausschauen und wenn man ganz oben angekommen ist, hat man den Sternenkranz um sich, wenn man auf die Stadt blickt. Um 1860 wurde sie fertiggestellt und war für einige Jahre die höchste Statue der Welt, bis ihre große Schwester, die Freiheitsstatue von New York, errichtet wurde. Damals eine technische Revolution, zumindest ist mir unbekannt, dass es vorher etwas Vergleichbares gegeben hätte.
Es ist nun Zeit, zu besichtigen, was einem bei dem Namen Le Puy als erstes in den Sinn kommt. Die Kapelle auf dem Felsen. Als ich eintrete, fühle ich mich in die Vergangenheit versetzt. In dem Gewölbe herrscht eine Stimmung wie in Camelot, man könnte sich darin Ritter Artus mit seiner Tafelrunde vorstellen. Ein wenig ist Le Puy Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Tausend Jahre sind vergangen, seit sich von hier aus die ersten Pilger auf den Weg nach Santiago begaben, zu Zeiten, als die Reconquista ihren Höhepunkt erlebte. Sie kehrten zurück und gründeten diese Kapelle. Ein Jahrhundert später begann der Kreuzzug unter der Beteiligung einiger bedeutender Persönlichkeiten aus Le Puy.